Mit der „Landesgedächtniskapelle“ – so der ganze Name – werden neue Wege beschritten. Landesgedächtnis – das galt einst den Gefallenen der beiden Weltkriege. „Wir wollten das Gedächtnis weiten von den Soldaten hin zu allen Opfern von Gewalt, insbesondere den Opfern der Euthanasie, gerade in Rankweil“, so Seelsorger Walter Juen. Und weil persönlich
Erinnertes dieser Zeit immer seltener wird, weitet sich das Gedenken zum Bedenken von Leid, Trauer und Hoff nung ganz allgemein, wird abstrakter. Denn Leid-Gedenken und Hoffnung-Schöpfen werden – existenziell und persönlich – im Bedenken erfahren. Das braucht Ruhe – und Dämmerung. Denn die Eule der Minerva, Vogel
des Bedenkens, tritt ihren Flug nun mal erst in der Dämmerung an. Das eint die Trostsuchenden, macht vordergründig Konfessionelles entbehrlich.
Den Raum unterhalb der spätgotischen Kirche betritt man auf der Längsseite. Vier kreuzgewölbte Joche, je quadratisch im Grundriss, im Schnitt etwa einen Kreis umfassend, Mittelpunkt auf Augenhöhe. Die im Dämmerlicht gleich hell wirkende Oberfläche von Boden, Decke und Wänden wird stark kontrastiert durch einen Streifen offen liegenden Fels’ gegenüber – schiefrig, liegend und dunkel, mit hellen, gegenläufigen Adern. Natur, bizarr – Baukunst, wohlproportioniert.
Hat sich das Auge ans Dämmerlicht gewöhnt, entfaltet sich der Raum. In den Blick kommen: einige Sitzwürfel; sieben goldene, tellergroßeScheiben am Boden längsseitig; am näher liegenden Raumende eine Senke mit Wasser; gegenüber in der Stirnwand ein Loch von der Größe und Präzision der Scheiben; im Joch neben dem Eingang ein geheimnisvolles Kästchen. Tritt man näher, so zeigt ein Schlitz von oben Totenkopf, Kette, Buchrücken: Die an Munchs „Schrei“ gemahnende Plastik eines in Rankweil eingesperrten „Irren“, der Rosenkranz des von den Nazis umgebrachten Pater Carl Lampert und das Verzeichnis aller in den beiden Weltkriegen gefallener Rankweiler.
Dreht man sich um, dann erhellt sich das Loch: Eine leuchtende Röhre, die ins Freie, ins Licht führt – ein Bohrung durch die 6 m dicke Wand, leicht geneigt, innenseitig glänzend poliert: die einzige natürliche Lichtquelle. Und man ahnt, wie hell es da werden kann! Tatsächlich ist sie so ausgelegt und berechnet, dass sie zweimal im Jahr, zur Tag/ Nacht-Gleiche, um 17 Uhr, für einige Augenblicke in die Sonne blickt, die dann den Raum erhellt, direkt auf das Kabinett die Erinnerungsstücke gerichtet, von dort strahlend. Die Ahnung dieses Licht-Augenblicks bringt das Dämmern zum Leuchten. Ganz wie – man merkt es erst nach einiger Zeit – ein im Atemzug fallender Tropfen Wasser in die gegenüberliegende Senke die Ruhe belebt.
Geht das: Eingriffe in einen jahrhundertealten Raum, ein Denkmal von höchstem Rang? Im Zuge der Neugestaltung wurde der Raum als Ganzes wieder hergestellt, Trennwände für Abstell- und Heizräume entfernt, Einbauten wie ein Altar und Gestühl aus dem 20. Jh. herausgenommen, einen Ziegelboden samt Aufbau abgetragen, Schichten von Dispersionsfarbe abgelöst, die alten Materialien eingesetzt, ein dreischichtiges Fresko und Rötelskizzen freigelegt – in enger Abstimmung mit Landeskonservatorin Eva Hody sorgsamst einen „ursprünglichen“ Raum wiedergewonnen. Doch damit auch historische Zeugnisse bis auf Spuren getilgt – auf der Suche nach dem elementaren Kern: Form, Material, auch Nutzung. Aus diesem Geist hat man die wenigen genannten Eingriffe gewagt – ein neuer Weg auch für die Denkmalpflege. „Wir hatten die Hoffnung, dass es funktioniert, wir hatten die Zuversicht, dass es geht, und wir wissen es nun, weil wir es erfahren haben“, und da meint Walter Juen nicht nur das Licht.
Punkte, Zeitpunkte, präzise Markierungen in diesem „zeitlosen“ Raum: eine Arbeit des Künstlers Matt Mullican, New York. Genau besehen haben die golden glänzenden, polierten Messingplatten feine Gravuren. Miteinander verglichen offenbart sich ein Muster, das Kundige als Sterbebilder entziffern können, variierte, exakte Zeichen eines je bestimmten Datums – die Todestage des ersten und letzten Opfers der beiden Weltkriege, gerahmt vom Sterbetag Jesu und dem Tag der Einweihung der neuen Kapelle. Das sind sechs; dieses bildgebenden Verfahren macht mit der siebenten Scheibe den Schöpfungstag sichtbar: eine Scheibe mit – nichts.
Es bedarf einiger Zeit, all den Feinheiten dieses Raumes auf die Spur zu kommen. Manches musste während dem Bau verworfen werden. Um das Verhältnis von Kunst und Raumgestaltung wurde heftig gerungen – mit einem Ergebnis, das überzeugt; mit einer Atmosphäre, einem Raum, so Architekt Andreas Cukrowicz, „ … in dem Leid verarbeitet werden kann, Möglichkeit des Gedenkens. Kein Leid thematisieren, keine Ausstellung gestalten. Wir wollten in diesen unterirdischen Raum, in diesen Felsenkeller
Licht bringen, einen Funken Hoffnung. Als Kontrapunkt Wassertropfen, symbolisch für Reinigung, für eine Zeitachse, welche für die Verarbeitung von Leid erforderlich ist. Wir haben mit Licht gearbeitet, wir haben mit Wasser gearbeitet, wir wollten einen besonderen Ort machen.“
Daten und Fakten
Objekt: Landesgedächtniskapelle und Fridolinzelle Basilika Rankweil, Liebfrauenberg, 6830 Rankweil
Planungsbeginn: 09/2009
Baubeginn: 03/2011
Fertigstellung: 03/2012
Bauherr: Pfarre Mariä Heimsuchung, Rankweil
Architektur: Cukrowicz Nachbaur Architekten, Bregenz
Kunst: „Sternbilder“ Matt Mullican, New York-Berlin
Örtliche Bauaufsicht: Bmst. Thomas Marte, Dornbirn
Bundesdenkmalamt: DI Eva Hody
Diözesanbauamt: DI Herbert Berchtold
Statik: DI Paul Frick, Rankweil
Lichtplanung: Conceptlicht, Mils
Bauphysik: DI Bernhard Weithas, Hard
Vermessung: Markowski ZT GmbH, Feldkirch
Mathematische Berechnungen: Urs Beat Roth, Zürich
(Leben & Wohnen)
Für den Inhalt verantwortlich:
vai Vorarlberger Architektur Institut
www.v-a-i.at
Kommenden Freitag, 13. April 2012:
Architektur vorORT 88
Antoniushaus, Feldkirch
Architekten: Johannes Kaufmann
Bauherr: Kongregation der barmherzigen Schwestern
Treffpunkt: 17 Uhr, Blasenberggasse 3, Feldkirch
Die vai Veranstaltungsreihe Architektur vorORT bietet für Interessierte monatlich die Gelegenheit, neue
Gebäude mit Bauherr und Architekt zu besichtigen.
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