AA

"Charkiw ist nicht Russland" - Kampf um Einheit der Ukraine

Die Feiern zum 1. Mai verliefen friedlich in Charkiw.
Die Feiern zum 1. Mai verliefen friedlich in Charkiw. ©EPA
Erst ein Anschlag auf den Bürgermeister, nun Angst vor Provokationen prorussischer Separatisten während der Siegesparade - in der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw (Charkow) geht die Angst um. Sogar der ukrainische Premier Arseni Jazenjuk scheut beim Besuch den Kontakt mit den Einwohnern.

Ihren “Feinden” stehen die moskautreuen Aktivisten in der ukrainischen Millionenstadt Charkiw direkt gegenüber. “Ihr Faschisten wolltet den Bürgermeister ermorden”, schreit einer der Demonstranten, die russische Flagge schwenkend, auf dem Platz der Verfassung den Anhängern der Zentralregierung in Kiew zu. “Charkiw ist nicht Russland”, schallt es von dort zurück. Die Lage droht zu eskalieren, doch dann drängt die Polizei die beiden Lager ab.

Sicherheitsaufgebot am “Tag des Sieges”

Anders als in anderen Städten der krisengeschüttelten Ostukraine zeigt der Staat in Charkiw durchaus Präsenz – und Stärke. An diesem Freitag sollen 5.500 Sicherheitskräfte die Gedenkfeiern am “Tag des Sieges” über Hitler-Deutschland schützen. “Wir werden Provokationen der Separatisten nicht dulden”, sagt Polizeichef Anatoli Dmitrijew.

Wer schoss auf Bürgermeister Kernes?

Seit Bürgermeister Gennadi Kernes Ende April von einem unbekannten Heckenschützen lebensgefährlich verletzt wurde, spitzt sich der Streit um die Zukunft von Charkiw gefährlich zu. Die Stadt liegt nahe an der russischen Grenze. Der 54 Jahre alte Kernes war früher ein Gegner einer stärkeren Westanbindung der Ukraine, hatte sich zuletzt aber von den prorussischen Separatisten distanziert.

“Niemand will zu Russland gehören”

In seinen bisher gut drei Amtsjahren habe der Bürgermeister “Ordnung geschaffen” in Charkiw, meint Geschäftsbesitzer Pjotr Rebrow. “Kernes hat die Gehälter für die Polizei angehoben und durch Kameraüberwachung die Kriminalitätsrate gesenkt”, meint er. Zwar sei auch in der zweitgrößten Stadt der Ex-Sowjetrepublik mit rund 1,4 Millionen Einwohnern der Frust auf die Zentralmacht in Kiew groß. “Aber Charkiw funktioniert. Ich kenne hier niemanden, der zu Russland gehören will”, erzählt der 34-Jährige.

“Timoschenkos Zeit ist vorbei”

In Rebrows Laden hängt ein Foto von Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko. Sie war – “wegen Amtsmissbrauchs” – von 2011 bis zum Machtwechsel in Kiew im Februar 2014 in Charkiw in Haft. “Sie war wichtig für die Ukraine, aber ihre Zeit ist vorbei. Ich unterstütze die derzeitige Übergangsregierung von Arseni Jazenjuk”, sagt Rebrow.

Politiker leben gefährlich in Charkiw

Unangekündigt kommt der prowestliche Regierungschef Jazenjuk an diesem sonnigen Maitag nach Charkiw. Die Sondereinheit “Titan” des Innenministeriums riegelt das Rathaus weiträumig ab. Jazenjuk habe bei der Sitzung mit Kommunalpolitikern ein kompromissloses Vorgehen gegen Separatisten gefordert, heißt es später in einer Mitteilung der Regierung. Eine Begegnung von Jazenjuk mit Bürgern gibt es nicht.

“Die Lage ist dafür zu gespannt”, sagt Polizeichef Dmitrijew der Nachrichtenagentur dpa. Die Polizei habe neulich auch Vitali Klitschko nicht völlig abschirmen können. Der Oppositionspolitiker war bei einer Kundgebung in Charkiw mit Eiern und Feuerwerkskörpern angegriffen worden. Leibwächter mussten den Ex-Boxchampion schützen.

Zwar werde es an diesem Freitag die traditionelle Siegesparade auf dem Platz der Freiheit geben, aber aus Sicherheitsgründen verzichte die Stadt auf Kriegsgerät – Flugzeuge oder Panzer, sagt Dmitrijew. Anders als in vielen andere Städten der Ostukraine war ein Verwaltungsgebäude nur kurz von Aktivisten besetzt worden.

Keine professionellen Separatisten

Auf dem Platz der Freiheit überragt ein 20 Meter hohes Denkmal für Revolutionsführer Lenin die angrenzenden Gebäude. In der Nähe stehen prorussische Aktivisten vor einem improvisierten Erste-Hilfe-Zelt. Im Unterschied zu anderen Städten in der Ostukraine sind es aber keine Kämpfer in Tarnkleidung, sondern junge Kerle in Turnschuhen.

“Überall ist Korruption”

Auf einem Regal stehen Ikonen, aus einem Lautsprecher dröhnen patriotische Lieder. “Ich bin hier, weil uns nur Russland helfen kann. Der EU und den USA sind wir doch im Grunde egal”, sagt Andrej. Er sei ein arbeitsloser Bergmann ohne Familie und habe Zeit für die “Wache” am Zelt, sagt der 28-Jährige. Sein Gesinnungsgenosse Oleg nickt. “Im Westen werden wir als Separatisten beschimpft, aber wir lieben die Ukraine genauso sehr wie unsere Landsleute. So wie bisher kann es nicht weitergehen – alles gehört den Oligarchen, überall ist Korruption”, meint der 25-Jährige. Auch er ist arbeitslos und ledig.

Auf der anderen Seite der Stadt hängt ein einsames Transparent am Fußballstadion, in dem bei der Europameisterschaft vor zwei Jahren Deutschland gegen Holland spielte. “Putin go home” steht auf dem Banner, das Fans des Erstligaclubs Metallist an die Stahlträger geknotet haben.

In einer Geste, wie sie in den aufgeheizten Tagen in der Ukraine selten ist, demonstrierten Metallist-Fans vor kurzem gemeinsam mit Anhängern des sonst verfeindeten Vereins Dnjepr in Charkiw für eine geeinte Ukraine. Dabei kommt es aber zu schweren Ausschreitungen mit radikalen prorussischen Kräften.

Hoffen auf Normalität nach Wahl

Die Träume vom wirtschaftlichen Aufschwung Charkiws durch die Fußball-Europameisterschaft hätten sich nicht erfüllt, erzählt Ladenbesitzer Rebrow. “Nun wünsche ich mir wenigstens, dass nach der Präsidentenwahl am 25. Mai Normalität einkehrt”, sagt er und seufzt. (red/APA)

home button iconCreated with Sketch. zurück zur Startseite
  • VOL.AT
  • Politik
  • "Charkiw ist nicht Russland" - Kampf um Einheit der Ukraine