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Cannes - Wahrhaftigkeit mit Perücke: "Toni Erdmann"

Peter Simonischek ist "Toni Erdmann"
Peter Simonischek ist "Toni Erdmann"
Im Vorfeld kann man sich den entstellten Peter Simonischek nicht so recht vorstellen. Mit schiefen Zähnen und wilder Perücke wird der Österreicher zu "Toni Erdmann", einer irritierenden Figur, die im gleichnamigen Film von Maren Ade die Nähe zur Tochter sucht. Doch das Unvorstellbare geht auf: Am Samstag feiert die urkomische, wahrhaftige Tragikomödie bei den Filmfestspielen Cannes Premiere.


Ades dritter Spielfilm ist der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag seit Wim Wenders’ “Palermo Shooting” vor acht Jahren, und zugleich heuer Österreichs einzige Chance auf (zumindest anteilige) Cannes-Ehren: Die Wiener coop99 hat den Film koproduziert; und mit Simonischek, von 2002 bis 2009 der “Jedermann” bei den Salzburger Festspielen und seit 1999 Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, hat eine heimische Schauspielgröße die Titelrolle übernommen.

Simonischek (69, “Oktober November”) ist Winfried Conradi, ein geschiedener Musiklehrer mit einer Leidenschaft für Scherze. Trocken liefert er seine Gags ab, greift dafür auf halblustige Utensilien wie Katzenbrille, Handschellen und falsches Gebiss zurück und stößt Freunde und Familienmitglieder damit vor den Kopf. Seine Tochter Ines (Sandra Hüller, “Requiem”) fand das als Kind vielleicht mal lustig, kann als nunmehr erfolgreiche Unternehmensberaterin aber nichts mehr damit anfangen. In Rumänien stellt sie gerade die Weichen für einen wichtigen Karrieresprung, berät eine Ölfirma bei einem Outsourcing-Projekt, das Hunderte Arbeitsplätze kosten wird.

Als Winfried der letzte verbliebene Klavierschüler abspringt und der geliebte Hund Willi wegstirbt, sucht er die Nähe seiner Tochter in Bukarest. So halbherzig Ines versucht, ihren Ärger über den Spontanbesuch und die oft unangebrachten Witze ihres Vater zu verbergen, so hält auch Winfried mit seiner Kritik am Lebensstil seiner Tochter nicht hinterm Berg. “Bist du eigentlich ein Mensch?”, platzt es einmal aus ihm heraus, und es kommt nach nicht mal zwei Tagen zum Eklat zwischen dem idealistischen Alt-68er und der rationalen Karrierefrau, der – so glaubt Winfried – in der profitorientierten Geschäftswelt Humor und Menschlichkeit abhanden gekommen sind.

Nach der Eskalation gibt Winfried vor, abzureisen – nur um dann mit schiefen Zähnen, zerzauster Perücke und Käsereibe im Sakko als Toni Erdmann, vermeintlicher Lebensberater von Ines’ Chef, wieder aufzutauchen und sich in Ines’ Umfeld zu mischen. Überrumpelt, steigt Ines wohl oder übel auf das Spiel ihres Vaters ein…

Was folgt ist eine Reihe an aberwitzigen, oft schmerzhaften Situationen, die bei der ersten Vorführung in Cannes herzliche Lacher, Jubel und gar Szenenapplaus hervorgerufen haben. Das oft zu weit gehende Verhalten von Winfrieds überdrehter Kunstfigur und der quasi neutrale rumänische Boden fern der Heimat ist die Möglichkeit für das entfremdete Vater-Tochter-Duo, neu anzufangen und sich ohne Ressentiments zu nähern. Ines überwindet zwar nie so ganz ihre peinliche Berührung, lässt sich aber zunehmend auf die Farce ein, bis ihr schließlich klar wird, was sie sich in der Männerdomäne eigentlich alles anhört und in ihrem kontrollierten Leben entgehen lässt. Die Art und Weise, wie sie sich buchstäblich jeglicher Verhaltensmuster entledigt, ist radikal und erlaubt kein Zurück.

162 Minuten lang dauert die präzise und wahrhaftige Beobachtung dieser schwierigen Beziehung – und ist keine Minute zu lang. Regisseurin Maren Ade (39, “Alle Anderen”) gibt ihrer episodenhaften Erzählung die Zeit, die sie braucht, und Kameramann Patrick Orth den herausragenden Darstellern den Raum, sich anzunähern. Der Film findet bei allen Pointen immer wieder zur individuellen Einsamkeit der Charaktere zurück, die sich bei Ines in Abschottung und bei Winfried in einer Stalker-Züge annehmenden Scherz-Offensive äußert.

Die beiden vom Theater kommenden Hauptdarsteller brillieren für sich ebenso wie gemeinsam: Simonischek verleiht Winfried eine tiefsitzende Melancholie und Toni eine ansteckende Spiellust; Hüller stattet Ines mit einer bröckelnden Mauer und unterdrückten Seite aus, die in Scheiß-drauf-Manier bei einer furiosen Karaoke-Einlage von Whitney Houstons “The Greatest Love Of All” hervorblitzt. So befreiend diese Szenen auch für den Zuschauer sind, so nah gehen Momente, in denen Vater und Tochter nebeneinander sitzen und sich nichts zu sagen haben, oder kurze Blicke austauschen, die auf eine Wärme schließen lassen, die einmal zwischen ihnen war. Das gipfelt in einem emotionalen Höhepunkt mit Kultpotenzial, in dem Simonischek in Gestalt eines haarigen Kukeri (einem traditionellen, bulgarischen Tiergestalten-Kostüm) nicht mehr zu erkennen ist.

“Ich habe schon beim Schreiben gemerkt, dass das Vater-Tochter-Thema ein dankbares ist, weil es sehr emotional ist”, sagte Ade bei der Pressekonferenz in Cannes. “Ich wollte die Beziehung, obwohl sie doch sehr speziell ist mit diesem speziellen Vater, nachvollziehbar machen. Ich versuche einfach zu jedem Zeitpunkt so genau wie möglich zu sein und alles aus den Figuren heraus zu denken. Manche Dinge, die die Charaktere tun, sind vielleicht nicht besonders wahrscheinlich, aber sie müssen möglich sein und die Schritte dorthin müssen ganz genau stimmen, sonst verliert es an Glaubwürdigkeit und Authentizität.”

Dass das Kunststück gelungen ist, davon zeugen euphorische Reaktionen beim ersten Pressescreening und Superlative in ersten internationalen Kritiken. Drei Tage nach Start des Festivals, so urteilt etwa “Le Monde”, sei der Wettbewerb in Cannes dank “Toni Erdmann” bereits entschieden. Ob es tatsächlich Palmen für den Film und seine Darsteller geben wird, entscheidet sich am 22. Mai. Verdient wäre es jedenfalls, und “bereit” ist der selige Simonischek auch: “Sollte es hier noch eine Überraschung geben, werde ich die genauso dankbar annehmen.”

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