Boris Johnson offenbar vor Rücktritt: Erklärung folgt

Nach beispiellosem Druck seiner Konservativen Partei ist der britische Premierminister Boris Johnson vom Parteivorsitz zurückgetreten, bleibt aber vorerst Regierungschef. Er werde weitermachen, bis seine Partei einen Nachfolger gewählt habe, sagte Johnson am Donnerstag in London. Allerdings forderten viele Parteifreunde, der 58-Jährige solle sofort auch als Regierungschef abtreten. Sein Vize Dominic Raab winkte jedoch ab. Die Opposition forderte Neuwahlen.
In der ersten Kabinettssitzung nach seinem angekündigten Rückzug hat der britische Premierminister Boris Johnson zur Umsetzung des Regierungsprogramms aufgerufen. Allerdings werde es weder neue Vorhaben geben noch einen gravierenden Richtungswechsel, sagte Johnson einer Mitteilung zufolge. Er betonte demnach, wichtige Budgetentscheidungen sollten der nächsten Premierministerin oder dem nächsten Premierminister überlassen werden.
Britischer Premier Boris Johnson vor Rücktritt
Mit am Kabinettstisch saßen sechs neue Minister, die Johnson unmittelbar vor seiner Rücktrittsankündigung ernannt hatte. Darunter war auch James Cleverly, der dritte Bildungsminister innerhalb von drei Tagen: Amtsinhaber Nadhim Zahawi war am Dienstagabend zum Finanzminister ernannt worden, dessen Nachfolgerin Michelle Donelan trat nach rund 36 Stunden im Amt aus Protest gegen Johnson zurück.
Einen sofortigen Rücktritt forderte etwa auch Ex-Premier John Major. Johnson sollte "zum allgemeinen Wohl des Landes" nicht noch so lange im Amt bleiben, bis ein Nachfolger gefunden sei, erklärte Major in einem offenen Brief. "Der Vorschlag, dass der Premierminister bis zu drei Monate im Amt bleibt, nachdem er die Unterstützung seines Kabinetts, seiner Regierung und seiner Parlamentsfraktion verloren hat, ist unklug und möglicherweise unhaltbar."
Johnson ist als Chef der Konservativen seit 2019 Premier
Vor seinem Amtssitz in der Downing Street 10 wandte sich Johnson gewohnt selbstsicher an die britische Bevölkerung: "Ich möchte, dass Sie wissen, wie traurig ich bin, den besten Job der Welt aufzugeben." Als er an ein Redepult trat, waren von außerhalb der Downing Street Buhrufe zu hören, Mitarbeiter spendeten hingegen Applaus.
Reue zeigte Johnson nicht. Stattdessen kritisierte er in seiner gut sechsminütigen Stellungnahme die Rücktrittsforderungen seiner Partei als "exzentrisch". "Es ist nun eindeutig der Wille der konservativen Parlamentsfraktion, dass es einen neuen Parteichef geben soll und damit auch einen neuen Premierminister", sagte Johnson. Er habe zugestimmt, dass der Auswahlprozess für einen neuen Parteichef nun beginnen solle.
Affäre gehörte zu einer langen Reihe von Skandalen
Johnson betonte zugleich, er habe noch versucht, seine Partei von seinem Verbleib zu überzeugen. "Ich bedauere, dass ich keinen Erfolg hatte mit diesen Argumenten, und natürlich ist es schmerzhaft, so viele Ideen und Projekte nicht selbst vollenden zu können", sagte er. Kurz zuvor ernannte Johnson noch neue Minister, mit denen er das Land führen will, bis ein neuer Premier im Amt ist.
Johnson war in den vergangenen Tagen massiv unter Druck geraten. Mehrere Kabinettsmitglieder und Dutzende parlamentarische Regierungsmitarbeiter traten zurück. Am Mittwochabend forderte sogar der erst einen Tag zuvor ins Amt berufene Finanzminister Nadhim Zahawi den Premier zum Rücktritt auf. Zahawi gilt wie Außenministerin Liz Truss und Handelsministerin Penny Mordaunt als möglicher Nachfolger. In Umfragen führt Verteidigungsminister Ben Wallace. Offiziell hat bisher nur Generalstaatsanwältin Suella Braverman ihre Kandidatur angekündigt.
Oppositionschef Keir Starmer begrüßte den Rücktritt
Oppositionschef Keir Starmer von der Labour Party begrüßte den Rücktritt. Er forderte aber, nun sei ein "neuer Start" nötig. "Wir brauchen eine Labour-Regierung", sagte Starmer. "Wir sind bereit." Medien spekulierten, dass die Oppositionspartei versuchen könnte, Johnson durch ein Misstrauensvotum im Unterhaus zu stürzen. Da die Tories dort eine große Mehrheit haben, dürfte ein solcher Versuch aber nur geringe Erfolgschancen haben.
Bei anhaltendem Druck könnte sich Johnson aber gezwungen sehen, zugunsten seines Vizes Dominic Raab zurückzutreten. Dieser trat jedoch entsprechenden Spekulationen entgegen. Er wolle nicht Nachfolger Johnsons werden, berichtete ein Reporter der Zeitung "Daily Mail". Auch der frühere Wohnbauminister Michael Gove strebe nicht das Amt des Premiers an.
Regierungskrise ausgelöst durch eine Affäre um Chris Pincher
Ausgelöst wurde die jüngste Regierungskrise in Westminster durch eine Affäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird. Dabei kam heraus, dass Johnson von älteren, ähnlichen Anschuldigungen gegen Pincher wusste, ihn aber dennoch in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Das hatte sein Sprecher zuvor jedoch mehrmals abgestritten.
Johnson stand seit seinem Amtsantritt am 24. Juli 2019 wiederholt im Mittelpunkt von Skandalen. So wurde ihm vorgeworfen, die Corona-Pandemie zuerst unterschätzt zu haben. Johnson erkrankte selbst schwer an dem Virus. Später gab es Affären um die Luxus-Renovierung seiner Amtswohnung sowie einen Luxusurlaub in der Karibik, die jeweils von Gönnern zumindest teilfinanziert wurden, sowie um korrupte Parteifreunde.
"Partygate"-Affäre um illegale Lockdown-Feiern
Auch die "Partygate"-Affäre um illegale Lockdown-Feiern in der Downing Street überstand Johnson, obwohl er für die Teilnahme an einer Party von der Polizei einen Strafbescheid erhielt. Erst vor wenigen Wochen gewann er knapp ein parteiinternes Misstrauensvotum. Der Vater von mindestens sieben Kindern war der erste Premier seit fast 200 Jahren, der im Amt heiratete.
Bis zuletzt hatte Johnson noch Unterstützer. Sie lobten den Premier dafür, er habe in den "großen Fragen" wie der Corona-Impfkampagne richtig entschieden sowie den Brexit vollendet. Auch für seine klare Unterstützung der Ukraine mit Waffenlieferungen im Krieg gegen Russland wurde Johnson vielfach gelobt. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak dankte Johnson für die Hilfe. Dieser telefonierte am Donnerstag mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und versicherte laut einer Regierungssprecherin die ungebrochene Unterstützung Londons. Großbritannien werde so lange wie nötig wichtige "Defensivhilfe" leisten.
Russland bejubelte den Rückzug am Donnerstag mit Häme
Russland hingegen bejubelte den Rückzug am Donnerstag mit Häme. Die Grünen im Europaparlament betonten, Johnsons Aus biete die Chance für einen Neustart zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. Auch Andreas Schieder (SPÖ), Brexit-Berichterstatter des außenpolitischen Ausschusses des EU-Parlaments, begrüßte den Rücktritt. "Es war höchste Zeit, dieses würdelose Schauspiel zu beenden. Boris Johnson ist als Regierungschef mit all seinen Vorhaben gescheitert." Ähnlich äußerte sich die Chefin der irischen Sinn Fein, Mary Lou McDonald, die jüngst stärkste Kraft in der britischen Provinz Nordirland geworden war. Johnson habe sich immer negativ gegenüber Irland verhalten und "wird nicht vermisst werden", sagte sie. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon bezeichnete Johnsons Abgang als "Erleichterung", bekräftigte aber die Unabhängigkeitsforderungen der Region.
(APA/Red)
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