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"Bei uns wird jedes Kind willkommen geheißen"

©Vorarlberger Kinderdorf
Judith und Elmar sind Krisenpflegeeltern, im Interview erzählen die Eltern von Zwillingen, warum sie für diese Aufgabe brennen.

„Auch wenn die Hintergründe dramatisch klingen – erst einmal freuen wir uns einfach darauf, das Kind aufzufangen, und sind gespannt, es kennenzulernen.“ Judith und Elmar sind Krisenpflegeeltern. Bei ihnen finden Babys und Kleinkinder vorübergehend ein sicheres geborgenes Zuhause. Neun private Krisenpflegefamilien gibt es derzeit in Vorarlberg. Sie werden vom Vorarlberger Kinderdorf gesucht, ausgebildet und begleitet.

Elmar und Judith sind Krisenpflegeeltern.
Foto: Vorarlberger Kinderdorf

Warum haben Sie sich dazu entschlossen, Krisenpflegefamilie zu werden?

"Uns war erst nur das Modell der Pflegefamilie sowie der Adoption bekannt. Wir haben das für unsere Familie in Betracht gezogen, es war immer wieder Thema. Durch einen Aufruf im Internet haben wir erfahren, dass in Vorarlberg flexible und bereitschaftswillige Familien im Bereich der Krisenpflege dringend gesucht werden. Wir haben dann recherchiert und Informationsgespräche mit den Fachpersonen des Vorarlberger Kinderdorfs geführt.  Unsere beruflichen Erfahrungen sowie familiären Rahmenbedingungen passten für diese Aufgabe optimal, und wir fühlten uns der Herausforderung gewachsen. Gemeinsam beschlossen wir, Kindern aus unserer 'Nachbarschaft' in einer Krise einen sicheren Hafen in unserem zu Hause zu bieten und so einen positiven Beitrag für unsere Gesellschaft zu leisten."

Wie sind Sie auf diese besondere Aufgabe vorbereitet worden?

"Durch ausführliche Gespräche im Rahmen des Vorarlberger Kinderdorfs, innerhalb der Familie und unter Freunden sowie durch den Austausch mit anderen Krisenpflegeeltern. Das war für uns eine gute Vorbereitung. Durch mein Studium zur integrativen Heilpädagogin und meine berufliche Erfahrung brachte ich auch die fachlichen Voraussetzungen mit. Das ersetzte die notwendigen Fortbildungen für werdende Krisenpflegeeltern."

Sie haben Zwillinge – wie haben Sie diese in diese Entscheidung eingebunden und wie ist es für die beiden, Teil einer Krisenpflegefamilie zu sein?

"Unsere achtjährigen Zwillinge sind sehr sozial und verständnisvoll und haben keine Probleme mit dem Teilen. Wir haben sie schon nach einem Gespräch unter uns Erwachsenen direkt in die Planung mit einbezogen. Zunächst haben wir gemeinsam unser Leben reflektiert. Altersgerecht klärten wir unsere Kinder darüber auf, dass es auch in Vorarlberg sein, dass Kinder es in ihrer eigenen Familie nicht immer so gut haben wie sie selbst. Die Möglichkeit, Eltern, die für ihre Genesung eine Pause benötigen, Unterstützung bei der Betreuung ihrer Kinder zu bieten, kannten sie bisher nicht. Unsere Zwillinge fanden unsere Idee, mit diesen Kindern unser Glück zu teilen, sie in unserer Mitte aufzunehmen und ihnen ein zu Hause auf Zeit zu schenken, sofort gut. Sie überlegten gleich, welchen Beitrag sie selbst dazu leisten könnten. Auf unser neues Familienleben mit Krisenpflegekindern sind beide sehr stolz. Sie sehen die Notwendigkeit dieser Aufgabe, unterstützen uns soweit sie können und stecken gern zurück. Sie genießen es, große Geschwister, Geschichtenvorleser, Erklärer, Händchenhalter, Trostspender, Flaschengeber und vieles mehr für diese Kinder zu sein."

Gibt es da auch manchmal Konflikte, Eifersucht, welches sind die positiven Auswirkungen?

"Unsere Zwillinge mögen sich sehr, sind ein harmonisches Pärchen, und können sich gut den ganzen Tag miteinander beschäftigen. Auch wenn ein Baby auf längere Zeit unsere volle ungeteilte Aufmerksamkeit braucht, stören sie sich nicht daran. Wenn eines unserer kleinen Krisenpflegekinder einen Zwilling als Spielpartner vereinnahmt, die beiden ärgert oder versucht, sie von ihrem 'Rang' in ihrer Familie zu stoßen, gibt es auch mal Konflikte und Eifersüchteleien untereinander. Das ist nicht viel anders als in anderen Familien mit Kindern unterschiedlichen Alters. Trotz alledem nehmen unsere Kinder sehr viel für sich mit. Anfänglich konnten wir beobachten, dass beide noch selbstständiger wurden. Während sie zuvor bequem Mama und Papa für Kleinigkeiten um Hilfe baten, ging dies plötzlich auch allein. Sie haben sich immer schon recht brav am Haushalt beteiligt, nun wollten sie auf einmal noch mehr dazu lernen. Somit haben wir nun zwei weitere Helfer, die problemlos und mit Freude Waschmaschine und Trockner bedienen können.

Sie kamen auch zu der Erkenntnis, dass es ihnen - solange sie ein Dach über dem Kopf und ihre Familie haben - an nichts fehlt. Dieses zu teilen, um anderen Kindern zu helfen, ist ihnen jetzt wichtig. Dabei wird auch ihre Flexibilität auf die Probe gestellt. 'Bei Anruf Kind' kann das dann schon mal bedeuten, dass ein lang geplanter Schwimmbadausflug buchstäblich ins Wasser fällt. Wenn man sich dann bei seinen Kindern dafür entschuldigt und diese darauf rücksichtsvoll antworten, ('Was ist jetzt wichtiger, Schwimmbad oder einem Kind in Not helfen?', dann macht uns dies sehr stolz. Ebenso wissen sie nun, wie Babys gefüttert, gewickelt und in den Schlaf gewiegt werden – und dass Kinder in der Trotzphase nicht immer einfach sind. Unsere Kinder werden sichtlich in ihrer Empathie-Fähigkeit gestärkt. Sie können sich in andere hineinversetzen, ihre Gefühle und Motive verstehen und nachvollziehen."

Wie hat sich Ihr Familienleben, Ihr Alltag durch die Krisenpflege verändert?

"Jeder Neuzugang bringt individuelle Veränderungen mit sich. Die persönlichen Bedürfnisse, Besuchskontakte mit der Herkunftsfamilie, Kindergarten- oder Arztbesuche lassen sich allerdings gut in unser Familienleben integrieren und bringen unseren normalen Alltag nicht ins Wanken. Hingegen werden Urlaube, Neuanschaffungen und Feste nun mit dem Hintergedanken: 'Was wäre wenn?' geplant."

Ich stelle mir das emotional sehr herausfordernd vor – können Sie beschreiben, wie das abläuft, wenn Sie den Anruf bekommen, dass ein Baby, Kleinkind ein vorübergehendes Zuhause braucht? Was machen Sie dann als erstes?

"Sobald der lange Name von Claudia (Anm. Hinteregger-Thoma, Leiterin der Auffanggruppe und Privaten Krisenpflege des Vorarlberger Kinderdorfs) am Handy erscheint, bleiben unsere Kinder voller Vorfreude erstarrt stehen. Während wir mit ihr im Gespräch die wichtigsten Infos (Alter, Geschlecht, Grund, Zeit) ergattern, können sie es kaum erwarten alles zu erfahren. Auch wenn die Hintergründe dramatisch klingen – erstmal freuen wir uns einfach darauf, dieses Kind aufzufangen, und sind gespannt, es kennenzulernen. Uns auf ein Kind im Alter von 0 bis 5 Jahren speziell vorzubereiten geht dann schnell. Kleidung, Spielzeug sowie alltägliche Gebrauchsgegenstände sind im Keller sortiert gelagert und können sogleich hergerichtet werden. Falls doch mal etwas fehlen sollte, ist dies schnell gekauft oder geschwind durch Freunde und Bekannte besorgt. Dann werden noch Dinge erledigt, die sich mit Baby oder Kleinkind schwierig gestalten lassen, und schon kann das neue Familienmitglied auf Zeit kommen."

Worauf kommt es in Ihren Augen ganz besonders an, damit man diese Aufgabe erfüllen kann?

"Eine stabile familiäre Basis ist in unseren Augen eine Grundvoraussetzung, um diese Aufgabe anzunehmen und zu meistern."

Ihr seht euch als eine „Art Rankhilfe“ für Kinder, denen von heute auf morgen der Boden unter den Füßen weggezogen wird . . . eine enorme Leistung und eine sehr große Verantwortung. Wie gehen Sie damit um?

"Wir wissen, dass wir nicht die Welt retten können und auch teilweise nicht alle Kinder, die wir in Obhut nehmen. Auch wenn diese nur kurze Zeit bei uns sind, geben wir ihnen alles, was sie brauchen. All das, was wir unseren Zwillingen auch gegeben haben. Vielleicht in bestimmten Bereichen sogar noch mehr. Die Gründe, warum die Kinder ihre Herkunftsfamilie verlassen müssen, sind bei uns nicht täglich präsent. Unser familiärer Zusammenhalt, Mitgefühl anstatt Mitleid, Geduld und Verständnis sowie der fachliche psychologische und pädagogische Hintergrund helfen uns dabei, diese Kinder sicher aufzufangen. Ob kurzer oder langer Aufenthalt, wir sind sicher, dass die Kinder genau das schöpfen können, was sie speziell zu dieser Zeit und für ihren weiteren Weg brauchen."

Ihr gebt als Krisenpflegefamilie Kindern ein Ort der Sicherheit, Geborgenheit – und das für einen begrenzten Zeitraum. Ich stelle mir das auch so vor, dass ihr erlebt, wie die Kinder in der Familie ankommen, wie sie durch eure Zuwendung zur Ruhe kommen können, wenn ihr Bedürfnis nach Nähe gestillt ist. Ist es nicht sehr schwer, die Kinder nach einigen Monaten wieder gehen zu lassen?

"Jedes Kind wird von allen Familienmitgliedern mit offenen Armen willkommen geheißen. Es ist schön zu sehen, wenn ein Kind von sich aus richtig angekommen ist und sich dazugehörig fühlt. Wir verbringen eine tolle, intensive sowie unvergessliche Zeit mit ihnen. Trotzdem sind wir realistisch. Dieser Realitätsbezug steht bei der Aufnahme eines neuen Kindes an erster Stelle. Nur so können wir Liebe, Zuneigung und Nähe ohne Rücksicht auf Verluste geben. Wir haben keine Bindung auf Distanz, aber wir sind auf die Trennung vorbereitet. Eine Trennung ist auch ein neuer Anfang. Nicht nur für die Krisenpflegekinder, sondern auch für uns als Familie. Jedes neue Kind bringt für jeden einzelnen von uns neue Erfahrungen und Kenntnisse mit sich, die auch uns für das weitere Leben prägen.

Wir sind im 'Hier und Jetzt'. Was in Zukunft ist, können wir nur versuchen zu beeinflussen, aber es liegt am Ende nicht in unserer Hand. Wir führen uns immer wieder vor Augen, in welche Richtung sich alles entwickeln wird oder entwickeln könnte. Somit können wir schlussendlich die Kinder zuversichtlich weiterziehen lassen. Alle haben kurz zu uns gehört, bekommen eine Erinnerung von uns mit auf ihren Weg, wurden in unserem Gästebuch liebevoll verewigt und werden für immer in unseren Herzen sein."

Seid ihr schon einmal an eure Grenzen gelangt?

"Durch das Bewusstsein, dass jedes Kind sein individuelles Päckchen mit sich trägt, wachsen wir erstaunlicherweise auch in extremen Umständen über uns hinaus und behalten in Ausnahmesituationen (z.B. Schreibaby) die Nerven. Hinzu kommt die Gewissheit über die begrenzte Zeit des Aufenthalts der Kinder, welche über schlaflose Nächte, anstrengende Tage oder über das Chaos im Haushalt hinwegsehen lässt."

Welche Voraussetzungen muss man in euren Augen als Krisenpflegefamilie mitbringen?

"Jede Familie ist mit ihren Werten, ihrer Erziehung, ihren Bräuchen und ihrer allgemeinen Lebenseinstellung einzigartig und bei Interesse an Krisenpflege und der Erfüllung von gewissen Erfordernissen sicher dafür geeignet. Wichtig sind gemeinsame Überlegungen und Gespräche im Voraus, ob man den Rahmenbedingungen entsprechen kann und auch erfüllen möchte. Haben wir genügend Platz, Zeit und Geld, um uns dieser Aufgabe zu stellen? Gibt es noch genügend Platz in unseren Herzen für ein zusätzliches (fremdes) Kind? Um die bevorstehende Trennung nicht noch schwerer zu machen, könnte es von Vorteil sein, den eigenen Kinderwunsch bereits abgeschlossen zu haben.

Um die gegebene Rangfolge innerhalb der eigenen Familie nicht zu durchbrechen, sollte unserer Meinung nach das aufzunehmende Kind immer jünger als die eigenen Kinder sein.  Eine gute Recherche zum Thema sowie als auch ein Vergleich und Ausschluss von anderen Familienkonzepten ist enorm wichtig. Ist mir klar, dass ich bei der Krisenpflege objektiv gesehen 'nur gebe' und nicht wie bei den eigenen Kindern, bei der Adoption oder in der Dauerpflege nach meiner Mühe 'Früchte' ernte?' Wie würden meine Kinder reagieren? Was kommt auf mich zu? Kann ich mit der bevorstehenden Trennung umgehen? Eine spontane, flexible und vorurteilsfreie Haltung zum Ganzen ist hilfreich, um Veränderungen, die dieser Schritt mit sich bringt, anzunehmen. Trauen wir uns diese Verantwortung zu? Sind alle Familienmitglieder mit der Entscheidung einverstanden? All diese Fragen im Vorfeld positiv beantworten zu können ist in unseren Augen eine gute Voraussetzung, um seine eigene Familie mit einem Krisenpflegeplatz zu erweitern."

Krisenpflegefamilien werden laufend gesucht und wir sind immer sehr froh, wenn Menschen bereit sind, ihre Erfahrungen zu teilen, um neue Familien anzusprechen. Wie würdet ihr interessierte Paare/Familien/Eltern für diese Aufgabe motivieren? Was ist das Schönste daran?

"Egal, was für die Kinder nach der Zeit in unserer Familie kommt, ist es schön für uns zu wissen, dass diese die Liebe, das Bindungsverhalten und je nach Alter das Erlebte abspeichern und ein Leben lang darauf zurückgreifen können."

"Krisenunterbringung gewährleisten"

Claudia Hinteregger-Thoma, Leiterin der Auffanggruppe und Privaten Krisenpflege des Vorarlberger Kinderdorfs über die Krisenpflege:

Claudia Hinteregger-Thoma

Krisenpflege ist aus meiner Sicht die einzige Möglichkeit, für Kinder im Alter von null bis fünf Jahren Sicherheit und eine ihren Bedürfnissen angepasste Form der Krisenunterbringung zu gewährleisten. Säuglinge und Kleinkinder brauchen geschützte Nestwärme, eine Bindungsperson und einen überschaubaren, familiären Rahmen. Die Alternative zu Familien mit dieser sozialen Grundhaltung wäre nur der stationäre Kontext, wie z. B. eine Kleinkinder/Babykrisenstation. Dieses Modell stellt aber alle natürlichen und für diese Altersgruppe wichtigen Grundbedürfnisse in Frage und hätte zur Folge, dass viele professionelle Betreuungspersonen sich im Wechseldienst um der Kinder annehmen – ein Modell, das alle fachlichen und entwicklungspsychologischen Standards für Säuglinge und Kleinkinder nicht erfüllen könnte. Private Krisenpflegefamilien sind seit 20 Jahren unser Garant, dass Babys und Kleinkinder ihren Bedürfnissen entsprechende Betreuung und liebevolle Zuwendung im familiären Rahmen bekommen und dazu gibt es aus unserer Sicht keine Alternative.

Aktuell betreuen unsere Krisenpflegefamilien 6 Kleinkinder im Alter von 6 Wochen bis 4 Jahren.

Ich begleite seit 20 Jahren unsere Familien und bin nach wie vor immer von ihrem Engagement, ihrer Feinfühligkeit und ihrer Haltung, einen Beitrag zum Gelingen einer sozialen Gesellschaft beeindruckt und ich weiß auch um die Herausforderungen die dieses mit sich bringt. Oft sind leibliche Eltern gekränkt und können die Maßnahme der Unterbringung ihrer Kinder seitens der Kinder- und Jugendhilfe nicht verstehen, sind verunsichert, wenn sich bei den Besuchskontakten auf die Krisenpflegefamilien treffen. Je mehr Wertschätzung und auch Verständnis von den Krisenpflegefamilien an die Mütter und Väter kommt, desto ruhiger und auch offener werden diese. Manchmal kommt es dennoch zu kritischen Begegnungen. Dann ist Fingerspitzengefühl und Unterstützung von uns in der Begleitung der Besuche notwendig.

Es gibt kaum eine größere Kränkung für Eltern als die Tatsache, für ihre Kinder versagt zu haben, sich nicht umfassend um sie kümmern zu können. Das führt unweigerlich zu Spannungen – alle unsere Krisenpflegefamilien sind dahingehend geschult und geben den leiblichen Eltern immer das Gefühl, Mutter und Vater zu sein und zu bleiben. So entsteht Vertrauen und immer wieder kommt es zu schönen und guten Begegnungen zwischen Eltern und Krisenpflegeeltern.

Die Kunst in dieser Arbeit ist aus meiner Sicht, stets: Die Würde des Menschen als unantastbar, zu verinnerlichen und dabei feinfühlig das Kindeswohl nie aus den Augen zu verlieren. Und die Zuversicht gründet sich aus der Kraft des Lebens.

Private Krisenpflege Vorarlberger Kinderdorf  

Infos & Kontakt:
T +43/5574/25618, M +43/650/4992040 oder M +43/676/9499202,
E-Mail krisenpflege@voki.at sowie unter: https://www.vorarlberger-kinderdorf.at/auffanggruppe/private-krisenpflegefamilien

(VOL.AT)

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