"Aufrecht" von Lea Ypi: "Überleben im Zeitalter der Extreme"

In dem neuen Buch, das sie zum Teil als Fellow des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien geschrieben hat, geht sie in ihrer Familiengeschichte weiter zurück. Im Zentrum steht ihre geliebte Großmutter Leman Ypi, von deren Leben sie wenig Konkretes weiß, außer, dass sie im griechischen Saloniki geboren wurde und zu Hause Französisch sprach. Als eines Tages im Internet ein Foto auftaucht, das Leman und ihren Mann Asllan 1941 beim Après-Ski in den italienischen Alpen zeigt, und erregte Postings folgen, beschließt sie, in Archiven nach ihren Spuren zu suchen. Immer wieder wird sie dort hören: "Recherchieren Sie als Verwandte oder als Wissenschafterin?" Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Das ist auch dem Buch anzumerken.
Historische Brüche, persönliche Würde
"In 'Frei' ging es um Erinnerung, und zwar um meine eigenen Kindheitserinnerungen und um die Paradoxien der Freiheit unter einem zusammenbrechenden Regime. In 'Aufrecht' geht es um Erinnerung, um Geschichte und Fantasie, und um den Versuch, das Leben meiner Großmutter vom Zusammenbruch des Osmanischen Reiches bis zum Aufstieg des Kommunismus in Albanien zusammenzusetzen", erläuterte Ypi im APA-Interview ihre Intention.
"Es ist sowohl eine Familiengeschichte als auch eine Reflexion über die historischen Brüche, die den Balkan geprägt haben: der Zusammenbruch von Imperien, Krieg, Finanzkrise und die ideologischen Gräben des 20. Jahrhunderts", so Ypi. "Der philosophische Kerngedanke ist die Würde und was es bedeutet, in einer Welt, die sie ständig auf die Probe stellt, in Würde zu leben - die Kompromisse, die Menschen eingehen, um zu überleben, und die moralische Komplexität, die das Überleben oft mit sich bringt."
Absurde Archiverlebnisse
Die 1979 in Tirana geborene Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics bringt sich selbst vor allem mit ihren Erlebnissen in diversen Archiven ein. Die Absurdität einer Bürokratie, die einen streng geregelten und limitierten Zugang zu gigantischen Aktenbergen und Überwachungsprotokollen überwundener autoritärer Regime gewährt, wurde schon wiederholt in Büchern festgehalten, in denen sich ganz neue, erschreckende Blicke auf das eigene Leben eröffneten. Doch hier recherchiert Ypi, die in "Frei" ihre eigene Kindheit im Kommunismus bestürzend offen beschrieb und so unmittelbar lebendig machte, nicht ihr eigenes Leben.
Dort, wo Fiktion und Fantasie eingreifen und die Autorin sich entscheidende Lebenssituationen ihrer Großmutter plastisch auszumalen versucht, gewinnt "Aufrecht" nicht jene Eigenständigkeit, die einen mitnähme in eine fremde Lebensgeschichte. Lea Ypi ist mehr Analytikerin und Theoretikerin als Erzählerin, und daher gelingt es ihr besser, den Kern ihres Anliegens herauszuarbeiten als eine wichtige Figur ihrer Familiengeschichte lebendig zu machen. Es geht ihr um den geringen persönlichen Spielraum des Einzelnen, um wenige entscheidende Eingriffsmöglichkeiten, sein eigenes Schicksal innerhalb von großen Umwälzungen bestimmen zu können, und um die schiere Unmöglichkeit, aufrecht durchs Leben zu gehen, wenn die Verhältnisse tonnenschwer auf einem lasten.
"Nichts Falsches getan"
Leman wird den eigenen Ehemann beim ersten Besuch nach wenigen Wochen Gefängnis, in das die neuen kommunistischen Machthaber den Klassenfeind steckten, der sich nie etwas zuschulden kommen ließ, außer dass er sich (wie sich zeigt: völlig zu Recht) über die Zukunft der albanischen Demokratie nach Ende des Zweiten Weltkriegs Sorgen machte, nicht mehr wiedererkennen, mit gebeugtem Rücken, fahlem Gesicht und ausgeschlagenen Zähnen. Und sie wird sich immer wieder die Frage stellen, ob sie das Angebot eines Deutschen, der einst ihre Tante heiraten wollte, zur Fluchthilfe nach Italien nicht doch annehmen hätte sollen. "Wozu sollten wir fliehen?", habe sie sich gefragt. "Wir hatten nichts Falsches getan." Kein ausreichender Grund allerdings, um dem Unrecht zu entgehen.
Am Ende wartet im Archiv noch eine Überraschung. Das 1941 aufgenommene Foto der Großeltern, das Ausgangspunkt der Recherchen war, findet sie zwar nie, entdeckt aber immer mehr Ungereimtheiten in den Akten. Schließlich wird das Unwahrscheinliche zur Gewissheit: Es existierten zwei Frauen gleichen Namens und ähnlicher Biografie - ein Umstand, der ihre Großmutter vor weiterer Verfolgung schützte, ja ihr vielleicht sogar das Leben rettete. Oder war es ein, vielleicht sogar bewusst herbeigeführter, Irrtum einer entmenschlichten Bürokratie- und Überwachungsmaschine?
"Vielleicht haben die beiden Lemans immer zusammengehört und sind zwei unterschiedliche Versionen derselben Menschlichkeit", schreibt Ypi. "Sie sind an die Vergangenheit verloren und zeigen uns, dass Würde darin liegt, in moralischer Absicht zu handeln."
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Lea Ypi: "Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme", Aus dem Englischen von Eva Bonné, Suhrkamp Verlag, 390 Seiten, 28,80 Euro)
(APA)
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