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Auf nach Üsküdar

Ulrich Gabriel
Ulrich Gabriel

Jedem Schreiber steht es gut an, sich von Zeit zu Zeit umzusehen, Ausschau zu halten oder sich auf den Weg nach Üsküdar (Ortsteil von Istanbul) zu begeben, wie es der türkische Schreiber im populären Lied „Üsküdar’a gider iken“ tat. Er könnte aus dem Schlaf erwachen und feststellen, dass sein Gewand verschmutzt ist und seine Augen schläfrig sind. Auf dem Weg aber könnten ihm die Augen aufgehen. Auch dem Schreiber des Barons von Zanzenberg gingen sie am letzten Sonntag des Jahres auf. Er fand ein antiquarisches Buch.

Der Titel: „Der Untergang der Welt durch schwarze Magie“ von Karl Kraus. Darin befand sich ein 110 Jahre alter Brief an das Publikum der „Fackel“ (Karl Kraus‘ Zeitschrift) mit dem Titel „Apokalypse“. Ein Auszug:

„Am 1. April 1909“, schreibt Karl Kraus, „wird aller menschlichen Voraussicht nach die „Fackel“ ihr Erscheinen einstellen. Den Weltuntergang aber datiere ich von der Eröffnung der Luftschifffahrt. Eine Verzögerung beider Ereignisse aus äußeren Gründen könnte an meiner Berechtigung nichts ändern, sie vorherzusagen, und nichts an der Erkenntnis, dass beide ihre Wurzel in demselben phänomenalen Übel haben: in dem fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit.

Es ist meine Religion zu glauben, dass Manometer auf 99 steht. An allen Enden dringen die Gase aus der Welthirnjauche, kein Atemholen bleibt der Kultur und am Ende liegt eine tote Menschheit neben ihren Werken, die zu erfinden ihr so viel Geist gekostet hat, dass ihr keiner mehr übrig blieb, sie zu nützen. Wir waren kompliziert genug, die Maschine zu bauen, und wir sind zu primitiv, uns von ihr bedienen zu lassen.

Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen. Aber siehe, die Natur hat sich gegen die Versuche, eine weitere Dimension für die Zwecke der zivilisatorischen Niedertracht zu missbrauchen, aufgelehnt und den Pionieren der Unkultur zu verstehen gegeben, dass es nicht nur Maschinen gibt, sondern auch Stürme!“

Dieses kleine Stück des offenen Briefes von Karl Kraus sollte genügen, um zu begreifen, dass der seither und noch immer viel beschwörte, viel zitierte, viel herbeigeschwatzte, unablässig gesuchte und nie wirklich gefundene NEUE Anfang des NEUEN Jahres, der NEUbeginn, die Umkehr in diesen Sätzen von Karl Kraus enthalten ist.

Enthalten, um „die schmalspurigen Gehirnbahnen“ zu erweitern und sich der „Welthirnjauche“ entgegenzustellen, dem „fieberhaften Fortschritt der menschlichen Dummheit“ Einhalt zu gebieten, den „Pionieren des Unkultur“ verstehen zu geben, dass es auch Stürme gibt, nicht nur Maschinen.

Gelänge dies beherzten DenkerInnen, so fänden sie ein „Lokum“ (traditionelle türkische Süßigkeit) im Taschentuch. So geschah es dem türkischen Schreiber auf dem Weg nach Üsküdar. Es könnte ein süßes Zeichen der Liebe sein, das den Weg weist.

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