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Artifizielle "Volksvernichtung" im Akademietheater

Werner Schwabs Personal aus der Vogelperspektive
Werner Schwabs Personal aus der Vogelperspektive ©APA/Burgtheater/Tommy Hetzel
Im Zinshaus der Frau Grollfeuer ist die Stimmung der Bewohner längst gekippt: Jedes Wort, das in den kaputten Familien Wurm und Kovacic gesprochen wird, dient der Demütigung. Und doch halten sich alle krampfhaft fest an diesem Leben, das für sie schon lange nichts mehr zu bieten hat. Fritzi Wartenberg hat die Stimmung in Werner Schwabs "Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos" im Akademietheater wörtlich genommen und den Bühnenraum gekippt. Ein akrobatischer Kraftakt.

Die Welt zwischen Bügelbrett und Küchenzeile

Man staunt am Samstagabend bei der Premiere nicht schlecht, wenn sich der Vorhang öffnet und man von oben auf die Küche der Familie Wurm blickt, wo Stefanie Reinsperger als rothaariger Herrmann zwischen Küchenzeile und Bügelbrett auf einem Hocker kauert und wie wild zeichnet. Man staunt auch, weil man ein ähnliches Setting gerade erst am Vorabend - zumindest für eine bemerkenswerte Szene - im Volkstheater bei der Premiere von "Komödie mit Banküberfall" gesehen hat. Dort hat man allerdings - mithilfe eines Klettersets - im rechten Winkel zum aufgeklappten Boden gespielt.

Im Akademietheater dient das Mobiliar allerdings hauptsächlich als Sitzgelegenheit und Kletterhilfe. Und so turnen Reinsperger als zurückgebliebener, aber mit starkem Willen ausgestatteter Sohn und Maresi Riegner als eher blass bleibende Mutter durch ihren engen Wohnraum und zerfleischen einander mit Schwabs ikonischer Fäkalsprache. Wie sehr sie nach all den Jahren mit ihrer kleinen Welt verwachsen sind, verdeutlichen die zum Mobiliar passenden, in blassrosa und beige gehaltenen Kostüme von Esther von der Decken.

Einrichtung gewordener Aufstiegsversuch

Auch im zweiten Akt behalten die 28-jährige Regisseurin Wartenberg und Bühnenbildnerin Jessica Rockstroh das artifizielle Setting konsequent bei. Der dunkelgrüne Plüschteppich samt dazu passendem Sofa und futuristischem Couchtisch zeugen vom Einrichtung gewordenen Aufstiegsversuch der Familie Kovacic, die nicht nur im selben Farbton gekleidet ist, sondern auch grüne Haare hat. Doch auch hier lässt der Umgangston zwischen dem polternden Vater (Sebastian Wendelin), der herrischen Mutter (um Akkuratesse bemüht: Zeynep Buyraç) und den beiden Teenager-Töchtern (Jonas Hackmann und Tilman Tuppy gefallen sich sichtlich als ordinäre Gören im bauchfreien Top und langen Haaren) tief blicken.

Hier wird besonders deutlich, welche Wirkung das gekippte Setting auf die Zuschauer haben soll: Wir blicken nicht nur auf das Geschehen herab, sondern können in den gegebenen Lauf der Dinge beim besten Willen nicht eingreifen. Schwab zeichnet eine Familienhölle, wie sie sich seit der Uraufführung 1991 an den Münchner Kammerspielen nicht groß verändert zu haben scheint. Lediglich der Abstand zwischen den gesellschaftlichen Schichten hat sich vergrößert.

Seltsam blasses Finale

Im großen Finale - dem Geburtstagsessen in der Wohnung der biestigen Vermieterin Grollfeuer - potenzieren sich schließlich die Abscheulichkeiten rund um einen Esstisch, dessen magnetisch befestigtes Gedeck sich abnehmen lässt, was angesichts des herrschenden Trinkgelages praktisch ist. Doch ausgerechnet hier ist die Luft der Inszenierung, die den Spielenden da bereits einige Akrobatik abverlangt hat, seltsam entwichen. Und so gerät ausgerechnet Franziska Hackls so wichtiger Schlussmonolog als mordende Grollfeuer allzu glatt. Die aufgestaute Wut, die zur titelgebenden "Volksvernichtung" führt, kommt nur zögerlich zur Entladung.

Nichtsdestotrotz hat Wartenberg sieben Jahre nach Nikolaus Habjans "Volksvernichtung"-Inszenierung am selben Haus, in der er das groteske Personal in den Fratzen seiner Puppen doppelte, einen ungewöhnlichen Theaterabend geschaffen, der Werner Schwabs Strahlkraft auch über 30 Jahre nach seinem Tod erneut unter Beweis stellt. Abstand hin oder her. Langer, herzlicher Applaus.

(Von Sonja Harter/APA)

(S E R V I C E - "Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos" von Werner Schwab im Akademietheater. Regie: Fritzi Wartenberg, Bühne: Jessica Rockstroh, Kostüme: Esther von der Decken, Choreografie und Körperarbeit: Sabina Perry. Mit Maresi Riegner, Stefanie Reinsperger, Sebastian Wendelin, Zeynep Buyraç, Jonas Hackmann, Tilman Tuppy und Franziska Hackl. Weitere Termine: 21. und 30. Oktober, 3. und 10. November. )

(APA)

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