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Armenier-Genozid: Türkei wirft EU-Parlament religiösen Fanatismus vor

"Zum einen Ohr rein, zum anderen raus", so Erdogan zur Resolution des EU-Parlaments bezüglich des Völkermordes an den Armeniern vor 100 Jahren.
"Zum einen Ohr rein, zum anderen raus", so Erdogan zur Resolution des EU-Parlaments bezüglich des Völkermordes an den Armeniern vor 100 Jahren. ©EPA (Sujet)
Nach der Resolution des EU-Parlaments zum "Völkermord" an den Armeniern hat die türkische Regierung den Abgeordneten "religiösen und kulturellen Fanatismus" vorgeworfen. Das Europäische Parlament hatte die Türkei erneut aufgefordert, die Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord anzuerkennen. Der Tod von möglicherweise bis zu 1,5 Millionen Armeniern vor 100 Jahren ist ein heikles Thema in der Türkei. Schon Kinder lernen: "Völkermord" gab es keinen - entgegen der Meinung zahlreicher Historiker.

Sie hätten “ein weiteres Mal angestrebt, die Geschichte bezüglich der Ereignisse von 1915 umzuschreiben”, kritisierte das Außenministerium in Ankara in ungewöhnlich scharfer Form. Das Parlament sei bekannt dafür, die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU behindern zu wollen. Das Ministerium riet den Parlamentariern, sich mit der Verantwortung ihrer eigenen Länder für die Gräueltaten während des Ersten und Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen.

“Wir nehmen diejenigen, die diese Resolution angenommen haben, indem sie Geschichte und Recht verstümmelten, nicht ernst”, hieß es in der Mitteilung weiter. “Die Wahlbeteiligung der EU-Bürger von 42 Prozent bei den Wahlen 2014 deutet bereits den Platz an, den dieses Parlament in der politischen Kultur der EU einnimmt.”

EU fordert von Türkei Anerkennung des Armenier-Völkermords

Das Europäische Parlament hatte die Türkei erneut aufgefordert, die Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord anzuerkennen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte das am Mittwoch kategorisch ausgeschlossen und die Meinung des Parlaments bereits im Vorfeld als irrelevant abgetan.

Erdogan: “Zum einem Ohr rein, zum anderen raus”

“Für die Türkei ist es niemals möglich, eine solche Sünde, eine solche Schuld anzuerkennen”, sagte Erdogan in Ankara nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu. Welche Entscheidung das Europaparlament auch treffe, “sie wird zum einem Ohr rein- und zum anderen rausgehen”.

“Unsinn”: Erdogan warnt Papst Franziskus

Das EU-Kandidatenland Türkei hat sich entgegen der Meinung zahlreicher Historiker bisher geweigert, die Gräueltaten an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als “Völkermord” anzuerkennen. Am vergangenen Sonntag hatte Papst Franziskus die Massaker und Vertreibungen zum zweiten Mal als “ersten Völkermord im 20. Jahrhundert” eingeordnet. Es kam zu schweren diplomatischen Irritationen zwischen dem Heiligen Stuhl und Ankara. Erdogan warnte ihn, solchen “Unsinn” zu wiederholen.

EU-Parlament erkennt Völkermord seit 1987 an

Das Europäische Parlament hatte bereits 1987 den Völkermord an den Armeniern anerkannt. Mehr als 20 Einzelstaaten, darunter Belgien, Schweden, die Schweiz und Frankreich folgten, Österreich und Deutschland, die im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet waren, vom Massenmord wussten, aber nicht dagegen einschritten, sind nicht darunter.

Armenien kritisiert Türkei scharf

“Die Politik der Leugnung ist perspektivlos”, kritisierte indes der armenische Außenminister Edward Nalbandjan in Eriwan. Die Türkei manövriere sich mit ihrer Haltung selbst ins Abseits, sagte er Berichten zufolge.

Armenier erinnern weltweit an Vertreibung und Genozid

Armenier in der ganzen Welt erinnern am 24. April an den Jahrestag des Beginns der Vertreibungen. Bei etwa zwei Jahre dauernden Deportationen und Massakern starben laut armenischen Schätzungen bis zu 1,5 Millionen Menschen, für sie ist es ein “Völkermord”. Die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches geht von deutlich weniger Opfern aus. Die osmanische Führung warf den christlichen Armeniern vor, mit dem Weltkriegs-Gegner Russland zusammenzuarbeiten.

Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich

Anfang des 4. Jahrhunderts – Die Armenier unter König Trdat dem Großen nehmen vom heiligen Gregor dem Erleuchter den christlichen Glauben an. Die Armenisch Apostolische Kirche wird gegründet. Das damalige Armenien wird so zum ersten christlichen Staat der Welt.

Trotz eigener Reiche geraten die Armenier unter die Herrschaft regionaler Großmächte, es kommt zu Wanderbewegungen und Massendeportationen aus den angestammten Gebieten zwischen Ostanatolien und dem Südkaukasus, etwa in das südostanatolische Kilikien. Schließlich kommt es zu einer Trennung zwischen Ostarmenien unter persischer (später russischer) Herrschaft und Westarmenien unter osmanischer (türkischer) Herrschaft.

1878 – Im Berliner Vertrag nach dem russisch-osmanischen Krieg sichert Konstantinopel den Armeniern zu, sie nicht wegen ihres Glaubens zu diskriminieren, sie zu schützen und ihre Lebenssituation durch Reformen zu verbessern.

1890 – Die Armenische Revolutionäre Föderation wird gegründet. Die Partei setzt sich für die nationale Befreiung der Armenier ein.

1894-1896 – “Hamidian” – Nach Sultan Abdülhamid II. benannte, organisierte Massaker an den Armeniern nach einem Aufstand gegen hohe Steuern: bis zu 300.000 Tote.

1909 – Massaker an bis zu 30.000 Armeniern in Adana (Kilikien).

1914 – Das Osmanische Reich tritt an der Seite des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg ein. Zum Jahreswechsel erleiden die Türken eine bittere Niederlage gegen die Russen in der Schlacht von Sarikamis. Die Armenier werden in der Folge der Kollaboration mit den Russen bezichtigt und die folgenden Deportationen so gerechtfertigt.

1915 – Der Völkermord beginnt:

– Am 24. April wird in Konstantinopel die Führungselite der Armenier festgenommen und später ermordet.

– Das Osmanische Reich gerät militärisch immer mehr in Bedrängnis. Bereits im Mai beschuldigen die Kriegsgegner Konstantinopel der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

– Mai-Juli – Deportationen aus Ostanatolien in Richtung mesopotamische Wüste. Am 21. Juni befiehlt der Innenminister Talat Pascha (später Großwesir, also Regierungschef) die Deportation aller Armenier aus den östlichen Provinzen.

– Herbst/Winter – Deportationen aus Westanatolien.

1916 – Im Sommer Massenmord an Armeniern in der Wüstenregion Deir al-Zor im heutigen Syrien.

1918 – Die Demokratische Republik Armenien wird ausgerufen, die später zur Sowjetunion kommt. Das Osmanische Reich kapituliert am 30. Oktober. Die Drahtzieher des Völkermordes fliehen nach Deutschland.

1919 – Unter den neuen Regierung werden auf britischen Druck hin die exilierten Ex-Machthaber in Abwesenheit zum Tod verurteilt.

1920 – Der nie ratifizierte Vertrag von Sevres sieht vor, die Verantwortlichen für den Völkermord vor ein internationalen Tribunal zu stellen.

1921 – Der Armenier Soghomon Tehlirian, dessen Familie dem Genozid zum Opfer fiel und selbst nur knapp überlebt hatte, erschießt Talat Pascha in Berlin.

1923 – Der Vertrag von Lausanne besiegelt die Annexion armenischer Gebiete durch die Türkei besiegelt; die Täter erhalten General-Amnestie.

1967 – Eröffnung der Genozid-Gedenkstätte in Eriwan.

1984 – Das Permanente Völkertribunal erkennt den Völkermord an den Armeniern an. Es folgen die UNO-Menschenrechtskommission (1985) und das Europaparlament (1987) weiters Belgien (1998), Frankreich (2001) und 20 weitere Einzelstaaten.

1991 – Nach einem Referendum erklärt sich Armenien von der Sowjetunion unabhängig.

2008 – Abdullah Gül besucht als erster türkischer Präsident das Nachbarland für ein Fußballspiel.

2009 – Die Türkei und Armenien nehmen in Zürich zwei Protokolle an, die auf die Normalisierung der Beziehungen abzielt. Sie wurden nicht umgesetzt. Serzh Sarksyan besucht als erster armenischer Präsident die Türkei für ein Fußballspiel.

(red/APA)

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