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Ankara will nicht an Merkel-Schock glauben

"Merkel wird Kanzlerin? Das ist aber sehr betrüblich für uns." Der Istanbuler Rechtsanwalt Ayhan Kilic steht in der Türkei mit seiner Reaktion auf die Nachrichten aus Berlin nicht allein da.

Zwar werde Angela Merkel in einer Großen Koalition mit der SPD Abstriche von ihren türkeipolitischen Vorstellungen machen müssen und die „Privilegierte Partnerschaft“ nicht als neue Linie der deutschen Regierung durchsetzen können, räumt Kilic ein. „Aber für die Türkei ist es immer noch schlecht, dass sie Kanzlerin wird. Denn Merkel hat gegenüber der Türkei große Vorurteile.“

“Bändigung” durch SPD

Nach der deutschen Bundestagswahl Mitte September waren in der Türkei noch erleichterte Stoßseufzer zu hören gewesen. Angesichts der Umfragen vor der Wahl, die einen klaren Sieg für CDU/CSU vorausgesagt hatten, war das knappe Wahlergebnis aus Sicht der Türkei ein gutes Resultat. Wenn schon Rot-Grün in Berlin abgelöst werden muss, dann ist es vom türkischen Blickwinkel her gesehen tröstlich, dass Merkel vom neuen Koalitionspartner SPD „gebändigt“ wird.

Die Türkei-skeptische CDU/CSU und die Türkei-freundliche SPD würden sich in der neuen Regierung gegenseitig „ausbalancieren“, heißt es deshalb bei der Regierung in Ankara. Merkel werde die Forderung der Unionsparteien nach einer Partnerschaft zwischen EU und Türkei unterhalb der Beitrittsschwelle zurückstellen müssen, sagen Regierungsvertreter. Das Lager der Türkei-Skeptiker in den Reihen der EU-Regierungen erhält nun zumindest keine so nachhaltige Verstärkung, wie das bei einem klaren Sieg Merkels der Fall gewesen wäre.

Kein Merkel-Schock

Merkel habe öffentlich und auch in vertraulichen Gesprächen mehrmals versichert, dass sie die Entscheidungen der EU in Sachen Türkei respektieren werde, heißt es in Ankara: Die Türkei will nicht an einen Merkel-Schock glauben. Zudem habe der letzte Woche erfolgte Beginn der türkischen EU-Beitrittsverhandlungen auch für Merkel eine „neue Realität“ geschaffen, an der sie sich orientieren müsse, sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im türkischen Parlament, Mehmet Dülger.

Mit Blick auf die anstehende Regierungsbildung in Berlin betont Dülger zudem den Unterschied zwischen Wahlkampf und Regierungsalltag. Nicht alles, was während des Wahlkampfes ein Thema sei, werde dann auch Regierungspolitik, sagt er. Viele Leute auf der Straße sehen das ähnlich. „Merkel wird nicht machen können, was sie will“, sagt der Istanbuler Fernsehredakteur Yetvan Damsikiyan. Die SPD wird damit aus türkischer Sicht zum Garanten dafür, dass sich Deutschland nicht über Nacht vom wichtigsten Unterstützer der Türkei in der EU zu einem führenden Gegner der türkischen EU-Mitgliedschaft verwandelt.

Wichtigstes außenpolitisches Streitthema

Die Sozialdemokraten hätten sich das Amt des Bundeskanzlers in den Verhandlungen mit der CDU/CSU teuer abkaufen lassen, kommentierte die Zeitung „Hürriyet“ am Dienstag. In der neuen Koalition werde die Türkei-Frage das wichtigste außenpolitische Streitthema der beiden Partner sein. Deshalb kommt der Besetzung des Außenminister-Postens größte Bedeutung zu.

An den bisherigen Amtsinhaber Joschka Fischer hatten sich die Türken nicht nur gewöhnt, sie hatten den Grünen-Politiker in den vergangenen Jahren ebenso schätzen gelernt wie Kanzler Gerhard Schröder. Nun hofft Ankara, dass der neue Außenminister ebenfalls aus den Reihen der Türkei-Freunde in der deutschen Politik kommt. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wird sich an diesem Mittwoch persönlich von Schröder verabschieden. Er hat Schröder als ersten westlichen Regierungschef eingeladen, mit ihm zusammen das traditionelle Fastenbrechen im Ramadan zu begehen. Der letzte Abstecher Schröders in die Türkei vor dem Ende seiner Kanzlerschaft erhält dadurch eine ganz besondere persönliche Note. Auch wenn die CDU-Kanzlerin Merkel in den nächsten Jahren ihr Modell einer „Privilegierten Partnerschaft“ in der Schublade verschwinden lässt: So viel Sympathie wie Schröder wird Merkel auf absehbare Zeit am Bosporus nicht genießen.

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