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An die Erinnerer

Es gibt Vergessliche und Unvergessliche. Die Vergesslichen vergessen immer etwas; manchmal sogar etwas Größeres; manchmal nur Kleinigkeiten wie Herr Diem, der ständig den Schirm vergisst. Die Unvergesslichen hingegen werden nicht vergessen. Ob sie bös oder gut sind, z.B. Verbrecher oder Held, Großer Künstler oder Kleiner Mann. Der kleine Mann wird nicht vergessen, weil niemand will, dass der kleine Mann vergessen wird. Wird der kleine Mann vergessen, merkt er es zunächst gar nicht. Erst wenn der Erinnerer kommt und sagt: „Kleiner Mann du bist vergessen worden“, zum Beispiel vom Staat, vom Busfahrer beim Südtirolausflug, vom Christkind oder vom Kellner. Dann erinnert sich der kleine Mann, dass er selber vergessen hat, das er vergessen wurde und sagt dem Erinnerer dankbar, „Danke, dass Du mich daran erinnert hast, dass ich vergessen wurde“ und wird verbittert, weil er vergessen worden ist. Der vergessene kleine Mann tut sich mit anderen vergessenen kleinen Männern zusammen, um einen Ausweg zu suchen. Sie beschließen High Heels zu kaufen. Das gelingt und sie sind keine kleinen Männer mehr. Nie mehr vergessen!

Damit die Vergesslichen nie alles vergessen, gibt es aber auch die Erinnerer, die die Vergesslichen erinnern, dass es wichtig ist zu erinnern, dass nicht alles vergessen werden darf. Schwupp, gleich denken alle schuldbeladen an die Nazi, zu denen der Opa auch gehört hat. Die Erinnerer sind bemüht, sich durch Erinnerungsarbeit möglichst frei von Sünde (auch Erbsünde) zu halten, indem sie die Vergesslichen unentwegt erinnern, dass nichts vergessen werden darf, weil das Böse unvergesslich sei und nie vergessen werden dürfe. Das sei das Gute daran. Weil die Erinnerer aber nicht jeden einzelnen Vergesslichen erinnern können, gründen sie einen Erinnererverein, um sich im Verein zu erinnern, nicht die Vergesslichen zu erinnern zu vergessen. Aber:„Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht sondern auch Dunkel gehört. Ein Mensch, der durch und durch nur historisch empfinden wollte, wäre dem ähnlich, der sich des Schlafens zu enthalten gezwungen würde, oder dem Tiere, das nur vom Wiederkäuen und immer wiederholten Wiederkäuen fortleben sollte. Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.“ Das sagte ein Mann aus Sils. Erinnern sie sich, wie er heißt? Unvergesslich.

Ulrich Gabriel
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