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AKP nach Wahlverlusten vor schwieriger Regierungsbildung

Kurden hoffen nach Wahlsieg der HDP auf Frieden und Wohlstand.
Kurden hoffen nach Wahlsieg der HDP auf Frieden und Wohlstand. ©AP
Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit bei der Parlamentswahl in der Türkei steht die islamisch-konservative AKP vor einer schwierigen Regierungsbildung. Nach vorläufigen inoffiziellen Ergebnissen kam die AKP auf 40,9 Prozent der Stimmen. Die Wähler erteilten damit auch dem Ziel der AKP eine Absage, eine Verfassungsänderung und ein Präsidialsystem auf den Weg zu bringen.
Türken erteilen Erdogan Abfuhr

Die Partei von Staatschef Recep Tayyip Erdogan stellte seit 2002 alleine die Regierung. Grund für den Verlust der absoluten AKP-Mehrheit ist der Einzug der pro-kurdischen HDP ins Parlament. Bei der Wahl am Sonntag hatte sie mit rund 13 Prozent der Stimmen erstmals die Zehn-Prozent-Hürde überwunden. Das Ergebnis war eine Niederlage für Erdogan, der die HDP im Wahlkampf scharf angegriffen hatte, obwohl der Präsident nach der Verfassung zur Neutralität verpflichtet ist. Die HDP war mit dem Ziel in den Wahlkampf gezogen, Erdogans Präsidialsystem zu verhindern, und hatte vor einer “Diktatur” gewarnt.

An zweiter Stelle lag die Mitte-Links Partei CHP (rund 25 Prozent), die ihr Ergebnis von 2011 fast halten konnte. Die ultrarechte MHP legte zu und kam auf gut 16 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag nach Angaben des Senders CNN Türk bei rund 84 Prozent.

Erdogan könnte nach 45 Tagen Neuwahlen ausrufen

Die AKP kann nun versuchen, eine Minderheitsregierung zu bilden oder einen Koalitionspartner zu finden. Sollte es im neuen Parlament nicht innerhalb von 45 Tagen gelingen, eine Mehrheit für eine Regierung zu finden, kann Präsident Erdogan Neuwahlen ausrufen. Danach muss am ersten Sonntag nach 90 Tagen gewählt werden.

Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus nannte Neuwahlen “am unwahrscheinlichsten”. Er sagte am Montag in Ankara: “Ich glaube, unser Premierminister wird eine Regierung innerhalb der vorgegebenen Zeit bilden können.” Eine Koalition ohne die AKP sei jedenfalls nicht möglich, betonte er. Die Türkei werde eine Koalitionsregierung “ausprobieren”.

Erdogan rief die Parteien zu verantwortlichem Handeln auf. “In diesem neuen Prozess ist es von entscheidender Bedeutung, dass sich alle politischen Kräfte verantwortungsvoll verhalten und das nötige Feingefühl zeigen, um die Atmosphäre der Stabilität und des Vertrauens sowie die demokratischen Errungenschaften zu bewahren”, so der Präsident.

Erdogan äußerte sich zunächst nicht

Der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arinc räumte Fehler der AKP ein. “Die AKP hat in der Vergangenheit 90 Prozent Gutes geleistet, zehn Prozent Schlechtes. Wir sind auch nur Menschen.” Erdogan äußerte sich zunächst nicht. Sein offizieller Terminkalender war am Montag erstmals seit sechs Wochen leer.

Amtliches Ergebnis “in elf oder zwölf Tagen”

Bei seiner nächtlichen Rede auf dem Balkon der Parteizentrale in Ankara erwähnte der Chef der AKP, Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, die massiven Stimmenverluste nicht. Er betonte stattdessen, die AKP sei auch aus dieser Wahl “als Sieger hervorgegangen”. Unter dem Jubel der AKP-Anhänger rief er: “Wir haben uns nie gebeugt und werden uns nie beugen.” Die Wahlkommission teilte am Sonntagabend mit, ein amtliches Endergebnis werde “in elf oder zwölf Tagen” vorliegen.

Der Co-Chef der HDP, Selahattin Demirtas, bezeichnete den Einzug seiner Partei ins Parlament als “überwältigenden Sieg”. Er sagte: “In der Türkei sind die Diskussionen um das Präsidialsystem und die Diktatur beendet.” In der südosttürkischen Kurdenmetropole Diyarbakir feierten Tausende HDP-Anhänger ihre Partei.

AKP: Weniger als 260 Parlamentssitze

Die von Erdogan mitgegründete Partei AKP kam nach Auszählung fast aller Stimmen auf weniger als 260 Parlamentssitze – als Ziel hatte sie 330 angegeben. Das wäre die erforderliche Mehrheit gewesen, um ein Referendum über eine Verfassungsreform zur Einführung eines Präsidialsystems abzuhalten. Davutoglu rief dennoch dazu auf, “die Arbeiten für eine neue Verfassung zu beginnen”.

98 Frauen sollen im neuen Parlament sitzen

Im neuen Parlament werden nach Angaben türkischer Medien insgesamt 98 Frauen sitzen, was einem Anteil von rund 18 Prozent entspricht. Bisher lag der Anteil der weiblichen Abgeordneten bei 14 Prozent. Zudem erhielten vier christliche Abgeordnete – drei Armenier und ein Aramäer – sowie zwei Jesiden Sitze im Parlament. Auch ein Vertreter der Roma sicherte sich ein Mandat.

Austro-Türken wählten Erdogan

56,6 Millionen Türken waren zur Wahl aufgerufen: 53,7 Millionen in der Türkei und 2,9 Millionen im Ausland. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu stimmten rund 64 Prozent der in Österreich lebenden wahlberechtigten Türken für die AKP. Die pro-kurdische Partei HDP bekam rund 14 Prozent.

Die Börse in Istanbul reagierte mit kräftigen Verlusten auf das Ergebnis der Wahl. Der türkische Aktienindex sackte um rund sechs Prozent ab. Auch die türkische Lira verlor gegenüber Dollar und Euro deutlich an Wert. Für einen Dollar mussten 2,76 Lira gezahlt werden, für einen Euro 3,08 Lira. Die türkische Zentralbank kündigte umgehend Maßnahmen zur Stützung der Währung an.

Türkei-Wahl: Die wichtigsten Fragen & Antworten

Die islamisch-konservative AKP hat die Wahlen in der Türkei nach inoffiziellen Ergebnissen mit rund 41 Prozent gewonnen. Sie verlor jedoch rund neun Prozentpunkte im Vergleich zu 2011. Die HDP überwand mit rund 13 Prozent die Zehn-Prozent-Hürde. Zweitstärkste Kraft wurde die Mitte-Links Partei CHP mit rund 25 Prozent, drittstärkste die ultrarechte MHP mit etwa 16 Prozent. Die Regierungsbildung wird schwierig. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Wahl.

Warum hat die AKP so viele Stimmen verloren?

Viele Kurden, die zuvor für die AKP stimmten, entschieden sich diesmal für die HDP. Die Kurden fühlen sich unter anderem wegen Kobane verraten. In der kurdisch-syrischen Grenzstadt kämpften Ende vergangenen Jahres kurdische Milizen gegen die Terrormiliz IS. Die türkische Regierung blieb jedoch untätig und verspielte damit das Vertrauen der Kurden. Der Friedensprozess zwischen Regierung und verbotener kurdischer Arbeiterpartei PKK liegt außerdem auf Eis.

Die absolute Mehrheit verlor die AKP, weil die HDP die Zehn-Prozent-Hürde überwand. Neben den Kurden konnte die HDP auch viele liberale Türken für sich gewinnen. Die Partei präsentierte sich als Bollwerk gegen das von der AKP gewünschte Präsidialsystem mit mehr Macht für Präsident Recep Tayyip Erdogan.

Die AKP hat nie erklärt, wie das Präsidialsystem genau aussehen sollte. Das machte viele Wähler misstrauisch. Stimmen büßte die AKP auch zugunsten der ultrarechten MHP ein.

Was ist nun der nächste Schritt?

Die Wahlkommission will das amtliche Endergebnis innerhalb von elf bis zwölf Tagen nach der Wahl bekanntgeben. Erst danach werden die Parlamentarier vereidigt und ein Parlamentspräsident gewählt. Anschließend muss innerhalb von 45 Tagen eine neue Regierung gebildet werden.

Was sind die Optionen für eine Regierungsbildung?

Die AKP kann eine von der Opposition geduldete Minderheitsregierung bilden. Das ist jedoch unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass die AKP versucht, einen Koalitionspartner zu finden.

Welche Partei kommt infrage?

Die AKP hat sich dazu noch nicht geäußert. Am wahrscheinlichsten ist jedoch eine Koalition mit der ultrarechten MHP, die drittstärkste Kraft wurde. Eine Große Koalition mit der zweitstärksten CHP ist unwahrscheinlich. Nach der Wahl hat lediglich die pro-kurdische HDP eine Zusammenarbeit mit der AKP ausdrücklich ausgeschlossen.

Was verbindet die AKP und die MHP – und was trennt sie?

Schnittstellen sind die teilweise religiöse und nationalistische Anhängerschaft. Konfliktpunkt ist der von der AKP auf den Weg gebrachte Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die MHP will die Friedensgespräche abbrechen.

Was passiert, wenn nach 45 Tagen keine Regierung zustande kommt?

Dann kann Präsident Recep Tayyip Erdogan Neuwahlen ausrufen. Danach muss am ersten Sonntag nach 90 Tagen gewählt werden.

Und wer regiert in der Zwischenzeit das Land?

Die AKP regiert dann bis zu den Neuwahlen. Sie ist jedoch praktisch handlungsunfähig, weil sie keine Mehrheit im Parlament hat.

(APA)

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