Litwinenko-Witwe: Russland braucht "Nürnberger Prozesse"
Frage: Ihr Mann wurde mit radioaktivem Polonium vergiftet, weil er Kritik an der russischen Politik äußerte. Welche Botschaft wollte er der Welt mitteilen?
Litwinenko: Mein Ehemann wurde vergiftet, nicht weil er Russland kritisiert hatte, sondern weil er ein Kritiker von Putins Regime war. Das ist etwas völlig anderes. Die russische Propaganda stellte es jedoch so dar, als greife er das Land an, um ihn in der eigenen Bevölkerung zu diffamieren. Tatsächlich ging es meinem Mann nur um Putin, der Beamte aus den Sicherheitsdiensten für seine Zwecke einsetzte und reiche Leute unter seinen Einfluss stellte. Sasha wollte der Welt zeigen, unter welchen Umständen Putin an die Macht kam und wie mafiös er regiert.
Frage: Wie ist Putin an die Macht gelangt?
Litwinenko: Der wahrscheinlich wichtigste Schlüsselmoment, in dem Putins politische Karriere begann, waren die (Moskauer) Wohnhaus-Bombenanschläge von 1999, für die offiziell Tschetschenen verantwortlich gemacht wurden. Mein Mann, ein Offizier beim Geheimdienst FSB, führte jedoch Belege an, dass der FSB selbst in diese Anschläge verwickelt sein könnte. Das war auch der ausschlaggebende Grund, warum er zum Ziel des Anschlags wurde.
Frage: Was glauben Sie, warum hat Westeuropa so lange die Warnungen vor Putin nicht ernst genommen?
Litwinenko: Lassen Sie es mich historisch erklären: Zur Zeit des Kalten Krieges war es einfach, zwischen Freunden und Gegnern zu unterscheiden: auf der einen Seite die Sowjetunion mit ihrem Sozialismus, auf der anderen die USA mit ihrem Kapitalismus. Nach dem Zerfall der Sowjetunion begann Russland, sich als moderner Staat aufzustellen und sich dem Westen zu öffnen. Das Land wurde in die europäische Wirtschaft und Politik integriert, davon profitierten alle. Diese enge Verflechtung machte es später schwierig, einen klaren Schnitt zu ziehen und Beziehungen abrupt zu beenden. Russland repräsentiert heute weder eine Demokratie noch ein totalitäres Regime wie zur kommunistischen Zeit - genau das trägt zur Verwirrung im Umgang mit dem Land bei. Europa war und ist zu soft gegenüber Putin.
Frage: Spätestens nach dem Beginn des Angriffskriegs ist Westeuropa aufgewacht. Welche Strategie verfolgt Putin für die Ukraine und Europa?
Litwinenko: Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Er hat gar keine langfristige Strategie. Er glaubt, ein großer Taktiker zu sein. Er unternimmt kurzfristig Maßnahmen, um Leute einzuschüchtern oder um Vertrauen zu gewinnen. Aber eine Strategie hat er sicher nicht. Er denkt, das Glück zu haben, Russland unter Kontrolle zu haben, weil er reich und wichtig ist.
Frage: Beispiele aus der Geschichte zeigen uns: Machthaber können auch von innen heraus gestürzt werden. Ist das auch in Russland möglich?
Litwinenko: Das ist mein Traum. Und das ist es, was Russland tun muss. Ich glaube nicht, dass es etwas bringt, Putin vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu stellen, den Russland ohnehin nicht anerkennt. Das würde Russland nicht verändern. Im Gegenteil: Es würde der russischen Propaganda in die Hände spielen, die ihn als Opfer und den Westen als Aggressor darstellt.
Die Menschen in Russland müssen selbst erkennen, dass all das, was geschieht, nicht 'der Westen' verursacht, sondern Putins eigenes Regime. Er muss in Russland, vor einem russischen Gericht, für seine Taten verantwortlich gemacht werden - ähnlich wie bei den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese waren wesentlich, um das Geschehene gesellschaftlich aufzuarbeiten.
Frage: Doch die Propaganda macht Ihren Wunsch schwierig ...
Litwinenko: Die Propaganda aus Russland ist extrem stark, und sie wirkt nicht nur innerhalb des Landes, sondern auch international. Medien wie "Russia Today" verbreiten gezielte Propaganda. Viele Menschen in Europa glauben daran, weil sie keinen Zugang zu verlässlicher, unabhängiger Information haben. Diese Manipulation wird durch soziale Medien noch verstärkt. Hinzu kommt die wirtschaftliche Abhängigkeit vieler Menschen. Besonders die Mittelschicht ist stark an den Staat gebunden: Die größten Arbeitgeber des Landes, etwa Rosneft oder Gazprom, sind staatliche Konzerne. Für viele Beschäftigte hätte offene Kritik unmittelbare Konsequenzen.
(Das Interview führte Josef Bertignoll/"Dolomiten" beim 17. Europäischen Mediengipfel in Seefeld/Tirol)
(APA)
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