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Türkei: Gericht vertagt Verfahren gegen Oppositionellen Özel

CHP-Chef Özgür Özel droht Absetzung
CHP-Chef Özgür Özel droht Absetzung ©APA/AFP
Ein türkisches Gericht hat das Verfahren zur möglichen Absetzung des Oppositionsführers Özgür Özel vertagt. Das Gericht verschob die Verhandlung am Montag auf Oktober. In dem Fall geht es um die Annullierung des Parteitags der größten Oppositionspartei CHP aus dem Jahr 2023 wegen Unregelmäßigkeiten. Dies könnte zur Absetzung Özels führen. Das Verfahren wird als Teil eines langjährigen Vorgehens gegen die Opposition gesehen, das eine politische Krise im Land ausgelöst hat.

Hunderte Mitglieder der säkular ausgerichteten CHP sind bereits wegen angeblicher Korruption und Verbindungen zum Terrorismus in Untersuchungshaft gekommen. Unter ihnen ist auch der wichtigste politische Rivale von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu. Dessen Verhaftung im März hatte zu den größten Protesten in der Türkei seit einem Jahrzehnt geführt.

Die türkische Opposition kämpft angesichts einer Verhaftungswelle und zahlreicher Prozesse um ihr politisches Überleben. Sollte das Gericht den Parteitag für ungültig erklären und Özel abgesetzt werden, würde das Beobachtern zufolge das Ende einer unabhängigen Opposition in der Türkei einleiten. Tausende CHP-Unterstützer gingen am Sonntagabend in Ankara auf die Straße.

Erfolg bei Lokalwahlen

Präsident Erdoğan war vor zwei Jahren wiedergewählt worden und gewann gegen den als farblos geltenden ehemaligen CHP-Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu. Özel löste Kılıçdaroğlu an der Spitze ab und richtete die Partei neu aus. Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr zahlte sich das für die CHP aus - sie fuhr einen überraschenden Erfolg ein und gewann die meisten Bürgermeisterämter im Land. 

Seitdem wurden zahlreiche oppositionelle Bürgermeister im Zuge von Terror- und Korruptionsermittlungen verhaftet, darunter der Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu. Das löste Massenproteste aus. Der CHP-Politiker, der seit einem halben Jahr ohne Anklage im Gefängnis sitzt, gilt als aussichtsreicher Herausforderer von Erdoğan bei zukünftigen Wahlen. 

Die Verhaftung İmamoğlus sei ein "Wendepunkt" gewesen, sagte die Türkei-Expertin Gönül Tol im politischen Podcast "Turkey Recap". Erdoğan wolle die Türkei in eine Autokratie nach russischem Vorbild umbauen, in der die Wahlurne keine Rolle mehr spiele. 

Steht die Partei vor der faktischen Entmachtung?

Inzwischen geht es nicht mehr nur um einzelne Bürgermeister, sondern die Struktur der CHP steht im Mittelpunkt. Erst vor zwei Wochen hatte ein Gericht den Vorstand der CHP in Istanbul abgesetzt und einen ehemaligen CHP-Abgeordneten als Verwalter ernannt. Ein anderes Gericht hatte die Entscheidung zwar wieder aufgehoben, der Verwalter blieb aber zunächst im Amt. 

Sollte Parteichef Özel wirklich abgesetzt werden, könnte der ehemalige, unbeliebte Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu reinstalliert werden - ein schwacher Politiker und damit bevorzugter Gegner Erdoğans. Der Präsident stellt die Geschehnisse als innerparteilichen Konflikt der CHP dar. Diese versinke im Strudel von "Streit, Chaos und Krise", sagte Erdoğan am Samstag. 

Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Berk Esen ist die Anzahl der Unterstützer Kılıçdaroğlus innerhalb der Partei jedoch minimal. Am Ende entscheide das politische Kalkül der Regierung über den Ausgang des Verfahrens, sagte er der dpa. Bei einer Vertagung bleibe der Druck auf die CHP bestehen. 

Russisches Modell

Sollte die CHP-Führung per Gerichtsbeschluss abgesetzt werden, könne man nicht mehr von einem funktionierenden Mehrparteiensystem sprechen, so Esen. "In diesem Fall würden wir zu einem viel hegemonialeren, autoritäreren Regime übergehen, in dem Wahlen keine große Rolle mehr spielen." Das wäre drastisch und hätte weitreichende Folgen für die CHP, auf politische Parteien im Allgemeinen und auf die türkische Politik. 

Auch Esen sieht Ähnlichkeiten mit Russland. Es gebe jedoch auch Unterschiede, etwa sei die Wirtschaft wettbewerbsfähiger und die türkische Gesellschaft offener und dynamischer. Nicht zuletzt sei die größte Oppositionspartei stark und habe populäre Führungsfiguren, neben dem inhaftierten İmamoğlu, auch den Bürgermeister der Hauptstadt Ankara, Mansur Yavaş. "Erdoğan drängt zwar darauf, das Land in diese Richtung zu führen, aber wir sind noch weit davon entfernt", sagte er. 

Erdoğan ist seit mehr als 20 Jahren an der Macht. Seit der Einführung eines Präsidialsystem 2018 hat er weitreichende Befugnisse und unter anderem maßgeblich Einfluss auf die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten. Die nächsten regulären Wahlen stehen 2028 an. Laut Verfassung darf Erdoğan nur im Fall von Neuwahlen noch einmal als Kandidat antreten. Er strebt jedoch eine Verfassungsänderung an.

(APA/dpa)

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