"Gestern habe ich doppelt gefeiert: Den Geburtstag meiner Tochter und das Ende der Diktatur"

Frühling im Dezember
Vor über zehn Jahren ist Mahmoud Aljardi noch in Syrien für die Demokratie auf die Straße gegangen, nun ist sein Bestreben endlich Wirklichkeit geworden. Nur wenige Minuten gingen die Demonstrationen damals: "Ich hatte Angst, aber ich habe gedacht, ich kann vielleicht etwas machen und den Leuten zeigen, dass der Frühling kommt. Ich bin stolz auf mich und jede andere Person, die gegen Assad auf die Straße ging. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich schreien durfte: ich brauche meine Freiheit." Für ihn bedeutet das Ende des Machtregimes des ehemaligen Präsidenten Baschar al-Assad nun genau das: Freiheit. Der Frühling ist also nun für Aljardi im Dezember gekommen.
"Habe mir Sorgen um meine Familie gemacht"
Nicht nur in großen Städten wie Wien und Berlin war am Wochenende Partystimmung angesagt. "Ich habe mich natürlich gefreut, ich habe natürlich gefeiert. Ich habe mir die ganze Zeit Sorgen um meine Familie in Syrien gemacht. Aber wir haben das Land nach 53 Jahren, in der die Familie Assad Syrien besaß, wieder", spricht er über die jüngsten Entwicklungen. Der Wahlwolfurter spricht dabei von den Herrschaftszeit zweier Generationen. Der letzte Präsident war fast 25 Jahre an der Macht.

Doppelter Grund zu feiern
"Gestern habe ich doppelt gefeiert: Den sechsten Geburtstag meiner Tochter und dass Syrien von der Diktatur frei geworden ist", erzählt der Familienvater. Auch die Freude in Syrien sei aktuell sehr groß. "Meine Familie hofft, dass sie die Demokratie bekommen", so der 35-Jährige. Aljardi ist seit 2014 in Österreich.

Er ist aus Massiaf geflüchtet, da er nicht für das Militär kämpfen wollte. In Syrien wohnen noch sein Vater, seine Mutter und drei Schwestern. Diese unterstützt er regelmäßig mit Geld, das er in seinem Bioladen in Wolfurt verdient. Denn etwa die Jobsuche seiner Schwester blieb erfolglos: "Die Jobs bekamen immer die Leute, die auf Assads Seite sind."
"Will die Wahrheit verbreiten"
Die vergangenen Tage hat er viel Zeit auf Social Media gebracht. "Mein Ziel ist es, den Leuten die Wahrheit zu zeigen", so der gebürtige Syrer. Denn viele würden immer noch versuchen, Assad online sehr positiv darzustellen. "Ich versuche in Kommentaren meine Erfahrung wiederzugeben." Wenn er auf einer Plattform Kommentare liest, die er als unwahr beurteilt, dann berichtigt er diese.
Auf Social Media wird er auch mit Videos etwa von Gefängnissen konfrontiert, auf die er aufmerksam machen möchte. Es werde dringend Hilfe von außen benötigt, um etwa Gefangene aus dem Saydnaya-Gefängnis zu befreien, bekräftigt er. Dort seien die Leute, die gegen Assad waren, festgehalten worden. Andere Gefangenen wurden bereits befreit: "Ich freue mich für jede Mutter, die gedacht hat, dass ihr Sohn gestorben ist und diesen nun frei ist."

Dass viele Personen aus der Türkei oder aus dem Libanon zurück nach Syrien wollen, kann er verstehen. Er selbst habe in Libanon und in der Türkei auf der Flucht gelebt und die Situation dort gesehen. Er erzählt von erfrorenen Geflüchteten im Winter in Zelten und von der einzigen Möglichkeit von Schwarzarbeit.
Eine Rückkehr nach Syrien kommt für den Wahlwolfurter selbst jedoch nicht in Frage. Schließlich hat er hier eine Familie in Vorarlberg gegründet und ist hier selbstständig. Unschlüssigen würde er raten, erst noch abzuwarten. "Aktuell ist sowieso ein komplettes Chaos in Syrien", so der 35-Jährige.
Rückkehr aktuell "kaum möglich"
Auch Hussain Abbas, der 2015 aus Idlib in Syrien geflüchtet ist, sieht eine Rückkehr vieler Syrer derzeit als "kaum möglich" an. Die Infrastruktur sei nämlich zerstört, und es fehle an grundlegenden Ressourcen, um das Leben in Syrien wieder aufzubauen, betont er. "Aus diesem Grund appelliere ich an die österreichische Regierung, die Situation der syrischen Geflüchteten menschlich zu betrachten."

"Der Verlust sitzt tief"
Abbas fordert darüber hinaus, dass Asylsuchende ihre Verwandten in Syrien besuchen dürfen, ohne dabei ihren Aufenthaltsstatus in Österreich zu gefährden: "Besonders jetzt, da der Diktator gestürzt ist, sollten solche Besuche überprüft und erlaubt werden, ohne dass es zu rechtlichen Nachteilen für die Betroffenen kommt." Auch wenn viele Geflüchtete in Vorarlberg ein neues Leben begonnen hätten, hier arbeiten würden und hier die Kinder hier zu Schule gehen würden, bleibe doch der Wunsch bestehen, die Heimat und die Verwandten zu sehen, ergänzt der 31-Jährige.
Doch nach Ende des Regimes bleiben die Folgen. Denn nicht alle Familienmitglieder können noch besucht werden: "Der letzte Verlust in meiner Familie war mein Cousin, der Opfer eines Bombenangriffs wurde – eines der vielen Verbrechen des Assad-Regimes. Der Schmerz über diesen Verlust sitzt tief."
"Historischer Wendepunkt"
Der 31-Jährige ist im Jahr 2015 nach Österreich geflüchtet, um "der Herrschaft von Baschar al-Assad zu entkommen". "Unter diesem Regime war es für viele junge Männer wie mich verpflichtend, Waffen zu tragen und gegen das eigene Volk zu kämpfen – ein Volk, das nach Freiheit strebte", so Abbas.
Er bezeichnet den Sturz des Assad-Regimes als einen klaren "historischen Wendepunkt in Syrien". "Diese Ära ist nun vorbei, und Syrien steht vor der Herausforderung, Sicherheit, Frieden und Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen", sagt er und sieht die syrische Führung in der Verantwortung, das Vertrauen des Volkes wiederherzustellen. Die bereits ergriffenen Maßnahmen, um Waffen einzusammeln und das Schießen in der Öffentlichkeit zu verbieten und das Ahnden von Gesetzesverstößen, sieht er als wichtige Schritte, um die Sicherheit der Bürger wieder herzustellen. "Meinungsfreiheit, Sicherheit und Würde waren unter dem Assad-Regime nicht gegeben. Ich hoffe, dass Syrien in eine Ära der Freiheit, Gerechtigkeit und Stabilität eintritt", so Abbas, der seit diesem Jahr österreichischer Staatsbürger ist.
(VOL.AT)
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