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„Junge Leute sind vermehrt hier!“

Immer mehr junge Menschen sowie Familien, aber auch Alleinerzieher, müssen die Hilfe von Tischlein deck dich in Anspruch nehmen, um über die Runden zu kommen.
Immer mehr junge Menschen sowie Familien, aber auch Alleinerzieher, müssen die Hilfe von Tischlein deck dich in Anspruch nehmen, um über die Runden zu kommen. ©W&W/Kuzmanovic
"Luxus als Fremdwort"
Tischlein deck dich auf Herbergssuche

Jedes sechste Kind in Österreich ist mittlerweile armutsgefährdet. Am Internationalen Tag für die Beseitigung der Armut vergangen Donnerstag sah sich WANN & WO die Situation der hilfsbedürftigen Menschen bei Tischlein deck dich genauer an.

Punkt 16 Uhr in der Tiefgarage des Dornbirner Kolpinghauses: Hunderte Kilos teils abgelaufener Lebensmitteln stapeln sich auf den Tischen. Aussortierte Waren, die den Kunden zu schlecht sind. Umpacken lohnt sich angeblich nicht, wenn eine einzige Paprika Schönheitsmakel aufweist. Doch hier stehen Menschen, die heilfroh sind, dass sie genau diese Lebensmittel kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen.

1900 Personen pro Woche warten auf Lebensmittel

Die Leute warten in einer Schlange auf die Produkte. Zwischen 90 und 180 Familien sind es pro Tag, 1900 Personen pro Woche. Auf den ersten Blick herrscht ein Durcheinander, doch Diskussionen oder Streitereien, wer zuerst da war, gibt es keine. Dafür sorgt eine spezielle Einteilung nach Gruppen, bei der jede Woche eine andere als erste zum Zug kommt.

„Luxus ist ein Fremdwort“

Jeder einzelne dieser Menschen hat sein eigenes Schicksal zu tragen, seinen eigenen Grund, um hier zu sein. Zwischen ausgelassenem Kindergeschrei erzählt Lisa, 32, aus Dornbirn das ihre. Für die Kleinen scheint das hier leider schon normal zu sein: „Durch zwei Operationen am Knie bin ich zu neun Monaten Krankenstand gezwungen. Arbeitslosengeld bekomme ich nicht, da ich auf Leasing im Behindertenbereich gearbeitet habe – von der Betreuerin zur Betreuten. Die Notstandshilfe deckt gerade mal die Miete. Zum Glück ist mir hier mein Vermieter entgegen gekommen. Ansonsten hätte ich kein Dach mehr über dem Kopf. Luxus ist für mich zu einem Fremdwort geworden“, so Lisa und zeigt dabei auf ihre Kleidung, die sie von ihrer Schwester bekommen hat. „Ich bin dankbar für die Unterstützung meiner ganzen Familie!“

Es kann jeden treffen

Tatsache ist, dass es immer mehr junge Leute und Familien, vor allem auch Alleinerzieher, trifft. Lukas, 20, aus Vandans, kennt durch seine Arbeit als Zivildiener bei Tischlein deck dich die traurige Wahrheit: „Vor Kurzem kam eine 23-jährige Frau zu uns. Sie weinte, weil sie sich so sehr dafür schämte, auf Hilfe angewiesen sein zu müssen. Aber damit ist sie nicht alleine, es kann im Prinzip jeden treffen.“ Der 20-Jährige verdeutlicht: „Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Die Lebenserhaltungskosten steigen, während die Leute weniger verdienen.“

Die Scham ist groß

Elmar Stüttler, der Tischlein deck dich ins Leben gerufen hat, verdeutlicht: „Im Vergleich zum vergangenen Herbst kommen heuer rund 20 Prozent mehr Leute. Auch am Monatsende spürt man eine Zunahme von 15 bis 20 Prozent. Vor allem junge Leute sind vermehrt hier. Ich habe oft nachgedacht, was der Grund für die steigende Armut ist. Zum Teil haben die Leute verlernt zu sparen oder wissen nicht, wie sie günstig kochen können. Sie greifen stattdessen auf teurere Fertiggerichte zurück. Die Menschen sind einfach nicht mehr zufrieden mit dem, was sie haben. Ein Problem sind meiner Meinung nach aber auch die viel zu hohen Mieten.“ Im Moment stehen noch genügend Lebensmittel zur Verfügung, doch sollte die Anzahl der Hilfsbedürftigen weiterhin steigen, wird es Probleme geben: „Dann kommt jeder nur noch alle zwei Wochen dran.“ Zwischen den Menschen, die dem Fotografen schamvoll den Rücken zudrehen, erklären sich zwei Frauen bereit, über ihre Beweggründe zu sprechen. Für Melanie, 34, aus Dornbirn sind Lebensmittel aus dem Supermarkt und auch Billig-Diskontern nicht mehr leistbar: „2006 starb meine Mama – der Auslöser für ein Leben in der Drogensucht. Zuvor war ich jahrelang im Gastgewerbe tätig, konnte mir durch mein Trinkgeld auch vieles leisten. Mittlerweile bin ich auf dem Weg der Besserung, aber dieser ist lang und steinig. Vor allem für meinen Sohn strenge ich mich an. Scham gibt es bei mir keine, ich bin einfach nur heilfroh, dass es eine Einrichtung wie Tischlein deck dich gibt, die mir mein Überleben sichert. Dennoch habe ich beobachtet, dass immer mehr junge Leute auf diese Art von Hilfe angewiesen sind. Auch sieht man hier vermehrt Familien und kleine Kinder.“

„Auf Dauer keine Lösung“

Neben Melanie steht Beate, 43, aus Dornbirn. Die beiden haben sich bei Tischlein deck dich kennengelernt und sind Freunde geworden: „Durch einen Bandscheibenvorfall konnte ich meine Arbeit als Reinigungsfachkraft nicht mehr ausüben. Außerdem haben mein Mann und ich uns nach 15 Jahren getrennt. Plötzlich stand ich da – ohne genügend finanzielle Mittel. So toll ich Tischlein deck dich finde, aber auf Dauer wird das keine Lösung sein. Es werden nicht weniger, sondern immer mehr Leute, die finanziell zu kämpfen haben.“ Wenn man beim Gehen in die Gesichter der ganzen Leute blickt, bleibt doch das Gefühl, dass Beate damit sehr wahrscheinlich leider Recht hat.

„Armut ist gewachsen“

Michael Diettrich ist Sprecher der Vorarlberger Armutskonferenz und zeigt die größten Probleme im Land bezüglich Armut.

WANN & WO: Welche Erfahrungen machen Sie in Ihrer täglichen Arbeit mit sozial schwachen Menschen?

Michael Diettrich: Die Zahl der von dowas in Bregenz beratenen KlientInnen ist von 2007 bis 2012 um 65 Prozent gewachsen. Seit einigen Jahren nimmt der Zulauf von Frauen zu. Darunter befinden sich vor allem viele Alleinerziehende und große Familien.

WANN & WO: Wo sehen Sie die größten Probleme im Land?

Michael Diettrich: Vor allem Frauen sind von Armut bedroht. Dabei spielt die Tatsache, dass Frauen vielfach nur Teilzeit- oder geringfügig beschäftigt sind, eine große Rolle. Es fällt schwer, die aktuelle Existenz zu sichern. Sie erwerben damit aber auch keine ausreichenden Pensionsansprüche. Es fehlen in diesem Zusammenhang nicht nur entsprechende berufliche Qualifikationen, sondern auch ganztägige Kinderbetreuung und angemessene Löhne in den von Frauen dominierten Berufen.

WANN & WO: Kann Armut jeden treffen?

Michael Diettrich: Im Prinzip ja, wobei Menschen mit geringer Bildung, Migrationshintergrund, mit „Handicaps“ auf dem Arbeitsmarkt (z.B. AlleinerzieherInnen), Familien mit mehr als zwei Kindern und allein stehende PensionistInnen besonders gefährdet sind.

WANN & WO: Was sagen Sie dazu, dass immer mehr Kinder von Armut betroffen sind?

Michael Diettrich: Die Feststellung einer (tatsächlich) zunehmenden Kinderarmut mag zwar sehr medienwirksam sein (Kinder verkaufen sich immer gut), relevanter ist aber, dass immer mehr Eltern von Armut betroffen sind. Dadurch wird Armut an die nächste Generation weitergegeben („vererbt“).

HK

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