Rettung aus der Schuldenfalle

Der Terminkalender von Alfred Gusenbauer ist voll. Er komme gerade aus Deutschland, wo er einen Freund besucht habe. Es handle sich um einen Ministerpräsidenten, erzählt der Ex-Kanzler beiläufig. In den Tagen und Wochen zuvor war er in ganz Europa und den USA unterwegs. Dort lehrt er an der Elite-Universität Harvard über die Sozialdemokratie in Europa. Drei Jahre nach seinem Ausscheiden aus der Politik hat er im Übrigen in der Privatwirtschaft Fuß gefasst: So ist er Aufsichtsratspräsident des Baukonzerns Strabag und Miteigentümer eines Unternehmens, das Investitionskapital auftreibt.
Europäischer Marshallplan
Die Politik hat ihn nicht losgelassen. Die Schuldenkrise beschäftigt ihn. Im VN-Interview skizziert er Auswege. So fordert er einen europäischen Marshallplan und eine Stärkung der Europäischen Zentralbank. Zur Budgetsanierung erklärt er seine Bereitschaft, höhere Steuern zu bezahlen. Solche Maßnahmen dürften aber nicht dazu führen, dass auf das Sparen vergessen werde; das sei jedenfalls notwendig.
Neuer Generationenvertrag
Vieles müsse sich ändern, meint Gusenbauer: „Wir brauchen einen neuen Vertrag zwischen den Nationen, Generationen und sozialen Klassen.“ Denn der Wohlfahrtsstaat könne in der heutigen Form nicht aufrechterhalten werden.
Europa demokratisieren
Die EU müsse indes gestärkt und demokratisiert werden. Womit die Nationalstaaten naturgemäß geschwächt werden würden. So weit wie der Schriftsteller Robert Menasse, der fordert, die Nationalstaaten abzuschaffen, würde er allerdings nicht gehen.
Ex-Bundeskanzler Gusenbauer (51) im VN-Interview
Herr Dr. Gusenbauer, welchen Beruf geben Sie an, wenn Sie dazu aufgefordert werden?
Nachdem ich mehrere Beschäftigungen habe, ist es schwer, diese auf einen Begriff zu bringen. Aber ich versuche es: Am ehesten trifft wohl zu, wenn ich sage, ich bin ein sozial verantwortlicher, kleiner österreichischer Kaufmann.
Sie sind in Aufsichtsräten, beraten einen autoritären Staatschef (Nursultan Nasarbajew), sind Teilhaber einer Firma, die sich mit Risikokapital beschäftigt: Agieren Sie noch als Sozialdemokrat?
Absolut. Dort, wo ich tätig bin, schaffen wir in nicht geringem Ausmaß Arbeitsplätze. Dort, wo ich tätig bin, leisten wir Beiträge zum Ausbau erneuerbarer Energie. Dort, wo ich tätig bin, versuchen wir Beiträge zur Demokratisierung und zur Durchsetzung der Menschenrechte zu leisten. Ich sehe keinen Widerspruch zwischen sozialdemokratischer Handschrift und einem wirtschaftlich erfolgreichen Agieren.
Befindet sich Europa zurzeit in einem Notstand?
Ich sage es so: Wir müssen alles tun, um wieder den Ton anzugeben. Dazu gehören Maßnahmen, die noch vor Kurzem unvorstellbar waren. Aber wir müssen es tun, um nicht unterzugehen.
Europa muss rasche Entscheidungen treffen, ohne den langen demokratischen Weg gehen zu können…
Es bleibt uns leider nichts anderes übrig. Jetzt muss rasch – wenn Sie so wollen: postdemokratisch – entschieden werden. Und dann in einem zweiten Schritt demokratisch legitimiert werden. Momentan geht es nicht darum, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.
Waren die Beschlüsse des letzten EU-Gipfels, eine Fiskalunion zu schaffen und eine Schuldenbremse einzuführen, ausreichend, um einen Weg aus der aktuellen Krise zu finden?
Durch die Beschlüsse werden die anstehenden Probleme nicht gelöst. Fiskalunion und die Verpflichtung zu einer konsolidierenden Haushaltsführung sind mittel- und langfristig wichtige Maßnahmen. Doch jetzt geht es um folgende Problemsituation: Wie stoppt man die nach wie vor ungehemmte Kapitalflucht aus Europa? Wie senkt man die hohen Zinsen, die einzelne Länder zu bezahlen haben, auf ein realistisches Niveau? Und wie kann eine drohende Rezession verhindert werden? Nirgendwo in der Geschichte konnte mit einer bloßen Sparpolitik eine Rezession verhindert werden. Mein Eindruck ist, dass Europa nicht mehr allzu viel Zeit hat, Antworten auf diese Fragen zu geben.
Sie haben es angesprochen: Wie soll die Rezession trotz Schuldenbremse verhindert werden?
Ich plädiere für einen europäischen Marshallplan. Dieser soll mit allen bislang nicht ausgeschöpften Brüsseler Finanzmitteln gespeist werden und durch Mittel der europäischen Investitionsbank verstärkt werden. Mit solch einem Marshallplan schafft man Investitionen in die Infrastruktur und setzt Maßnahmen, um die sündteuren Energieimporte von Öl und Gas zu reduzieren. Auf nationaler Ebene sollte der Kurs einer wachstumsorientierten Konsolidierung eingeschlagen werden. Das heißt: Welche Ausgaben kann ich kürzen, welche Einnahmen kann ich erhöhen, ohne das Wachstum zu gefährden?
Und wie können die Probleme Kapitalflucht und hohes Zinsniveau gelöst werden?
Hier ist die Europäische Zentralbank gefordert. Sie muss Maßnahmen setzen, um die Kapitalflucht zu stoppen und das Zinsniveau zu reduzieren. Das Ausgesetztsein der Nationalstaaten gegenüber den international agierenden Finanzmärkten muss reduziert werden. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn die EZB in großem Ausmaß italienische Anleihen um ein Prozent kauft, dann ist Italien nicht mehr gezwungen, auf dem internationalen Finanzmarkt sechs bis sieben Prozent zu bezahlen. Dies würde augenblicklich zu einer Reduzierung des Zinsniveaus führen.
Das heißt, die EZB ist aufzuwerten, damit sie so agieren kann wie die Fed?
Die EZB benötigt alle Instrumente, die auch eine andere vergleichbare Zentral- und Nationalbank zur Verfügung hat.
Bis hin zum Anwerfen der Notenpresse?
Natürlich.
Da kommt dann gleich das Gespenst der Inflation daher.
Ich sehe die Inflationsgefahr nicht als zentrale Gefahr. Ich sehe die Rezessionsgefahr, und die Gefahr, trotz Sparmaßnahmen nicht aus der Schuldenfalle zu kommen, bedeutend höher.
Dann noch einmal nachgefragt: Ist die Schuldenbremse eine richtige Maßnahme?
Wenn die Schuldenbremse dazu führt, die Mehrwertsteuer um fünf Prozent zu erhöhen, dann ist sie unvernünftig. Wenn sie dazu führt, nicht mehr vertretbare Ausgaben zu reduzieren und gleichzeitig steuerliche Einnahmen zu lukrieren, die keine negativen Folgen für das Wachstum haben, dann ist sie sinnvoll.
Der Sparzwang ist eine ideologische Streitfrage.
Ich wollte, wie Sie wissen, auch ein Nulldefizit in die Verfassung schreiben. In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten muss ein Staat jedoch die Möglichkeit haben, die Ausgaben zu erhöhen. Doch immer nur unter der Prämisse, in finanziell guten Zeiten einen Kurs der Konsolidierung zu fahren.
Wo ist Österreich gefordert?
Wir haben zwei Probleme. Wir sind sehr stark exponiert in Mittel- und Osteuropa, also kann es uns nicht egal sein, wie es diesen Staaten wirtschaftlich geht. Zudem werden auf der Ausgabenseite Bereiche bedient, die den Staat in seiner Handlungsfähigkeit einschränken.
Was meinen Sie konkret?
In Zeiten wie diesen ist kein Platz für überbordende Erhöhungen im öffentlichen Dienst. In der Wirtschaft haben wir seit zehn Jahren stagnierende Reallöhne, im öffentlichen Dienst gab es in den vergangenen zehn Jahren einen Lohnzuwachs von 23 Prozent. Jedes Verständnis für die Abgeltung der Inflation bei kleinen Pensionen. Aber ab einer gewissen Höhe sind solche Erhöhungen wie zuletzt nicht angebracht.
Gibt es Leistungen des Staates, bei denen Sie persönlich sagen, die brauche ich nicht? Sind Sie daneben bereit, höhere Steuern zu zahlen?
Ich gehöre glücklicherweise zu jenen, die über ein gutes Einkommen verfügen. Ich habe nichts dagegen, dass Leute wie ich höhere Steuern zahlen müssen. Ich habe auch nichts gegen eine Vermögen- oder Vermögenszuwachssteuer. Und es hat das Antreten eines großen Erbes mit dem Leistungsgedanken nichts zu tun. Trotz alledem: Auch wenn wir Gerechtigkeitslücken schließen, können wir uns andere Reformen nicht ersparen.
Die Abschaffung der Erbschaftsteuer fiel in Ihre Kanzlerschaft.
Aufgehoben wurde sie vom Verfassungsgerichtshof und die ÖVP verweigerte eine Neuformulierung des Gesetzes.
Sie haben allerdings keinen echten Kampf geführt.
Weil ich keine Möglichkeiten auf eine Einigung mit der ÖVP sah.
Sie sind Professor einer US-amerikanischen Eliteuniversität. Was sagen Sie zur Studiengebühren-Debatte in Ihrer Partei?
Ich mische mich jetzt sicher nicht in diese Diskussion ein. Aber alle Maßnahmen zur Finanzierung der Unis, die getroffen werden und die bei der Leistungsfähigkeit des Einzelnen ansetzen, sind jedenfalls sinnvoller als das Schaffen neuer Zugangshürden.
Wenn der von Ihnen geforderte Marshallplan für Europa realisiert wird, haben wir zwangsläufig eine andere, eine stärkere EU.
Es ist erkennbar, dass immer stärkere Schritte des gemeinsamen Handelns gesetzt werden. Umso weniger ist deshalb zu akzeptieren, dass Entscheidungen auf nicht demokratisch legitimierten Ebenen fallen. Deshalb ist jetzt ein direktdemokratisches Mandat der europäischen Bevölkerung notwendig. So muss das EU-Parlament eine viel stärkere Rolle spielen, zudem plädiere ich für einen direkt gewählten Präsidenten der EU.
Was bedeutet das für die Nationalstaaten?
Die Nationalstaaten haben weiterhin genügend Spielraum. Wenn es aber, was notwendig ist, weiter einen Abfluss von Souveränität nach Brüssel gibt, dann bin ich dafür, dort einen demokratisch legitimierten Adressaten zu haben und nicht eine anonyme Bürokratie.
Mittlerweile entscheiden ohnehin nur noch Berlin und Paris…
Das derzeitige Führungsmodell „Berlin entscheidet, Paris hält eine Pressekonferenz ab und der Rest nickt ab“ ist kein wirklich nachhaltiges Modell.
Außer man will die Postdemokratie fördern.
So ist es.
Was bedeutet diese Stärkung der europäischen Ebene? Der Schriftsteller Robert Menasse geht so weit, dass er sagt, letztlich könnten die Nationalstaaten abgeschafft werden. Und zum Ausgleich könnten die Regionen gestärkt werden.
Ich gehe nicht so weit wie mein Freund Robert Menasse, sondern sage: Nicht die Auflösung der Nationalstaaten steht an, sondern eine Demokratisierung Europas.
Der Italiener Antonio Gramsci definierte „Krise“ folgendermaßen: Eine Krise besteht darin, wenn das Alte stirbt und das Neue nicht geboren ist. Befinden wir uns in der Krise oder kämpfen wir für den Weiterbestand des Alten?
Ich bin für den „leopardischen“ Zugang: Es wird sich vieles ändern müssen, damit das Wesentliche beim Alten bleibt. Das heißt für mich, dass wir weiterhin das Gemeinwesen nach demokratischen Grundzügen strukturieren müssen und dass wir einen sozialen Ausgleich zu organisieren haben, der den neuen Anforderungen entspricht.
Was benötigt Europa also im Sinne des von Ihnen zitierten Fürsten aus Lampedusas „Der Leopard“?
Wir brauchen einen neuen Vertrag zwischen Nationen, Generationen und sozialen Klassen auf dem Kontinent. Die bisherige Verteilungssituation ist nicht aufrechtzuerhalten, der Wohlfahrtsstaat ist nicht aufrechtzuerhalten.
(VN-joh, misp)
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