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Jelineks Kaprun-Stück „In den Alpen“

Christoph Marthaler inszenierte an den Münchner Kammerspielen die neueste Uraufführung der österreichischen Autorin.

Im Zentrum des nüchternen Warte- und Speisesaals stehen sechs einfache Tische samt Sesseln. In der Rückwand gähnt ein durch eine Falttüre verschlossenes großes, schwarzes Loch, in das eiserne Schienen führen – der Start einer Geisterbahn möglicherweise, oder das Tor zur Hölle. Über dem Schlund prangt die Aufschrift:
„Benutzung gebührenfrei!“ – In diesem, von Ausstatterin Anna Viebrock geschaffenen Ambiente fand gestern, Samstag, Abend die Uraufführung von Elfriede Jelineks Stücks „In den Alpen“ an den Münchner Kammerspielen statt.

Die österreichische Autorin hat sich unmittelbar nach der Gletscherbahnkatastrophe von Kaprun vor zwei Jahren daran gemacht, das Unglück literarisch zu verarbeiten und in Beziehung zu jenen Themen zu stellen, die sie immer wieder, von „Totenauberg“ bis „Sportstück“, beschäftigt haben: Gesundheitswahn und Naturbegeisterung, Sport und Tourismus, Geschäft und Ideologie. In einer Talstation lässt sie geschäftige Einsatzkräfte und offenkundig Tote aufeinandertreffen. Die einen sortieren menschliche Überreste in schwarze Müllsäcke, die anderen drücken die verpackten Einzelteile ihrer Liebsten zärtlich an sich. Viebrock hat für diesen Begegnungsort zwischen Dies- und Jenseits kein Fegefeuer geschaffen, sondern eine Nach-Hölle. Wer sich hier befindet, hat das Feuer bereits hinter sich. Jedesmal, wenn sich der cool-routinierte Helfer mit dem Naturburschenappeal (Oliver Mallison) eine Zigarette anzündet, zucken die lebenden Leichen (besonders pointiert: Christa Berndl und Andre Jung) schmerzhaft zusammen.

Das post-infernale Treiben erinnert immer wieder, nicht nur in den Kleidungs-Versatzstücken der hier Versammelten, an die saisonalen Stoßzeiten der heimischen Skiregionen. Regisseur Christoph Marthaler arrangiert hektische Serviertablett-Ballette, unvermittelte Gewaltausbrüche und sogar kleine Abfahrten auf den mit einem Handgriff zu Skipisten umfunktionierbaren Tischen. Sichere Hand beweisen er und der Musiker Martin Schütz bei der Auswahl der alpenländischen Musikkulisse, die teils durch Chorgesang des Ensembles, teils live durch den an den Automaten werkenden Musikern, teils vom Band beigesteuert wird. Marthaler versteht es, in diese seltsame Gemengelage aus Erinnerung an den realen Schrecken, emotionaler Bedrückung und szenischer Überhöhung witzige Einlagen einzustreuen. Doch in einem kennt er keine Gnade: DJ Ötzis „Anton aus Tirol“ erspart er seinem Publikum nicht. Die unangenehmen Geräusche eines sich ankündigenden Kabelbrands sind da über Lautsprecher jedoch bereits vernehmbar.

Wohin das Ganze führen soll, ist unklar. Da öffnet sich der Höllenschlund und spuckt einen jovialen Anzugträger (Stephan Bissmeier) aus, mehr zerstreuter Professor als Himmelsbote. Mit einem Mal hat die versammelte Sportgesellschaft einen gemeinsamen Buhmann gefunden. Jelinek hat hier Teile von Paul Celans „Gespräch im Gebirg“ eingearbeitet und problematisiert faschistische Keime der Naturbegeisterung. Schon früh hatte die alpine Bergwelt judenfrei zu sein. Was Marthaler inszenatorisch als Konfrontation herausarbeitet, wird inhaltlich zunehmend ungreifbar. Der Regisseur verzichtet auf den von der Autorin vorgeschlagenen Abgang der Toten nach Aufruf ihrer Nummern und auch auf alle pyrotechnische Spezialeffekte. Mehr Grauen verbreiten von Jelinek eingearbeitete Originaltexte, letzte Funksprüche und hilflose Gutachten. So schließt sich der Kreis von der Gletscherbahn-Katastrophe zum Kaprun-Prozess.

Am Ende gab es für das Ensemble langen Applaus, für das Regieteam und die Autorin vereinzelte Bravo- und ebensolche Buhrufe. Wer daraufhin ins Freie trat, landete unvermittelt im besinnungslosen Taumel der Massen. München hatte an diesem Abend zweierlei zu feiern:
Einen 4:1-Sieg des FC Bayern über Bochum und das letzte Wochenende des Oktoberfestes. Ein erschreckendes Satyrspiel nach einer irritierenden, nachdenklich machenden Vorstellung.

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