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59 Sekunden

„Wahrlich, ich sage Euch: der Zanzenberg wird heute nur jenen zugänglich sein, die Neugier auf Musik haben. Doch das allein genügt nicht. Wer mitkommen will, muss Bach hören wollen, aber ich meine nicht den „olumpischen“ Thomas Bach, auch nicht Schuberts „Bach im Frühling“, auch den Fallbach nicht, nein, es geht um Johann Sebastian Bach, noch präziser, um seine Matthäuspassion. Das setzt Neugier auf Bildung voraus. Wollt ihr an Ostern sitzen bleiben oder auferstehen? Kommt mit! Besorgt Euch eine CD mit Textbooklet, versucht die Töne als Bilder, als Geheimnisse zu sehen, stehlt Euch Zeit! Holt mehr vom Sinn des Lebens! Holt mehr Wissen! Oder wollt Ihr nur Schokoladeosterhasen?

Hört, hört, hört Euch bitte das an! Entdeckt die Symbolik dieser Musik, erfasst die Mystik dahinter, bildet das Kreuz aus „ais-D-cis-eis“, seid Ideendetektive, deutet die Noten aus, vor allem: Lest auch etwas darüber! Wahrlich ich sage Euch, es ist hier nicht Platz genug, um die Geheimnisse, die diese Weltkomposition birgt, auszuführen. Das ist mehr als Eier pecken! DieTexte Henricis, des Matthäusevangeliums, Paul Gerhardts Choräle, freie Dichtungen liefern die packende Grundlage, die es Bach ermöglichte, das riesige Werk für 2 Orchester, 2 vierstimmige Chöre, 12 Solorollen zu schaffen und 1727 uraufzuführen. Nicht mehr als 25.000 Einwohner lebten damals in seiner Stadt. Leipzig schaffte es, das Riesenwerk am Karfreitag in der Thomaskirche aufzuführen. Welche Stadt Vorarlbergs schaffte das heute? Choräle wie „O Haupt voll Blut und Wunden“ , der Schrei „Barrabam“ ,die bösartigen Choreinwürfe der Menge (der Volk), der gewaltige Eingangs- und Schlusschor mit Knabenchor darüber, der Weltchoral „Wenn ich einmal soll scheiden“ sind die bekanntesten Höhepunkte daraus, die staunen machen. Selbst für Menschen, die nicht an Gott glauben, geht plötzlich der Himmel auf (DIE ZEIT 28.3.).

Heute, am Ostersonntag will ich Euch für 59 Sekunden daraus gewinnen. Es ist die Stelle nach dem Tod Jesu, als der Vorhang zerreißt, Finsternis einbricht, die Erde bebt, aus den Gräbern die Toten treten. In diese tödliche Stille beginnen plötzlich SängerInnen und Orchester in genialer vierstimmiger Vertonung sechs Worte zu singen: „Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Nicht mehr, nicht weniger. 67 Noten und 2 Takte braucht Bach dafür. Manche Dirigenten „pinseln“ heute diese Stelle in unverantwortlichen 15 Sekunden herunter und töten sie ab. Dirigierverbot!
Der große Musiker Karl Richter wendete 1958 für „Wahrlich“ 59 Sekunden auf: die vierfache Dauer! Mit Langsamkeit und Respekt vermochte er damit wie kein anderer die unfassbare Tiefe, Dichte und Wirkung der Komposition hörbar zu machen. Wollt Ihr das ewige Wachsen und Vergehen hören?“ (→ Youtube Bach Richter Wahrlich).

Ulrich Gabriel
Ulrich Gabriel ©Ulrich Gabriel
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