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Blutiger Dienstag in Kiew: Brutales Ende eines friedlichen Protests

Erstmals seit vier Wochen wieder gewaltsame Auseinandersetzungen.
Erstmals seit vier Wochen wieder gewaltsame Auseinandersetzungen. ©EPA
Schwer bewaffnete Sicherheitskräfte haben in Kiew begonnen, den von Tausenden Regierungsgegnern besetzten Unabhängigkeitsplatz zu stürmen. Das berichteten örtliche Medien am Dienstagabend. Laut der Nachrichtenagentur AFP bewegte sich die Polizei mit Wasserwerfern zum Maidan vor.
Regierung stellt Ultimatum
Gewalt in Kiew eskaliert

Demonstranten schossen mit Feuerwerkskörpern und versuchten, die Sicherheitskräfte mit starken Laserpointern zu blenden. Vereinzelt marschierten zudem Spezialpolizisten der Berkut-Einheiten auf die brennenden Barrikaden zu. Das Innenministerium hatte kurz vor Beginn des Einsatzes die etwa 20.000 versammelten Regierungsgegner zum Verlassen des Platzes aufgefordert. Es folge eine “Anti-Terror-Operation”, hieß es. Die Oppositionsführung rief Frauen und Kinder in ihren Reihen auf, den Platz zu verlassen.

Mehrere Todesopfer

Bei den Straßenschlachten in Kiew sind nach offiziellen Angaben mindestens zehn Menschen ums Leben gekommen. Sieben Zivilisten und drei Sicherheitskräfte seien getötet worden, sagte ein Polizeisprecher am Dienstag der Agentur Interfax. Zuvor war unter Berufung auf Journalisten und Demonstranten von sechs Toten die Rede gewesen. Innenministerium und Sicherheitskräfte hatten den Demonstranten ein Ultimatum gestellt. Sollten die Unruhen nicht bis 17.00 Uhr MEZ beendet sein, werden wir gezwungen sein, die Ordnung mit allen gesetzlich erlaubten Mitteln wiederherzustellen , hieß es in einer im Internet verbreiteten Erklärung. Oppositionsführer Vitali Klitschko rief daraufhin Frauen und Kinder auf, den Maidan-Platz zu verlassen. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Sicherheitskräfte den Platz stürmten.

Livestream vom Maidan-Platz

Ein Büro der Regierungspartei von Janukowitsch wird angegriffen und vermutlich angezündet. In den niedergebrannten Räumen finden Rettungskräfte eine Leiche. Es wirkt wie ein Lynchmord. Über dem Zentrum von Kiew liegt giftiger schwarzer Qualm von brennenden Autoreifen. Anrainer verrammeln ihre Türen und kleben ihre Fenster mit dickem Klebeband ab.

Die Fronten sind verhärtet

Die Volksfeststimmung Tausender Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, ist längst verflogen. Nun rückt schwer bewaffnete Polizei auf die Barrikaden der Regierungsgegner vor, ein Reporter der Agentur Interfax beschreibt leblose Körper an einem Schutzwall. Die Behörden stellen ein Ultimatum, drohen mit “allen Mitteln, die das Gesetz erlaubt”.

“Wir müssen den Staat bewahren, diese Demonstranten haben nichts mit friedlichem Protest gemeinsam”, sagt ein entrüsteter Oberleutnant der Inlandstruppen einem Internetsender. Die Fronten sind verhärtet, der Hass ist groß. Aus der Krise scheint kaum ein Ausweg möglich. Auch wenn der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier nach einem Telefonat mit seinem ukrainischen Kollegen Leonid Koschara ankündigt: “Wir werden unsere Bemühungen für eine Konfliktlösung fortsetzen.”

Timoschenko: Keine Kompromisse

Die Gewalt kommt nur auf den ersten Blick unerwartet. Zwar sah es noch am Montag in Kiew nach Entspannung aus: So stellt die Justiz die Ermittlungen gegen radikale Regierungsgegner ein, lässt mehr als 240 Festgenommene frei. Die Demonstranten räumen im Gegenzug besetzte Gebäude, darunter zunächst auch die Kiewer Stadtverwaltung.

Doch die Wut vieler Protestierender, die seit Monaten im Stadtzentrum in Zelten ausharren, ist gewaltig. Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko ruft aus ihrer Haft heraus immer wieder dazu auf, keine Kompromisse mit der “Bande” um Janukowitsch zu schließen. Ihre Anhänger sprechen nun von Verrat und Niederlage. Aber auch die regierende Partei der Regionen gießt Öl ins Feuer. Beharrlich weigert sich die Janukowitsch-Partei, eine Rückkehr zur parlamentarisch-präsidialen Verfassungsordnung von 2004 zu diskutieren, wie sie die Opposition fordert.

Janukowitsch schweigt

“Heute tragen die Oppositionsführer persönlich Verantwortung für die neue Etappe der Verschärfung des Konflikts”, schimpft Justizministerin Jelena Lukasch. Sie meint Arseni Jazenjuk von der Timoschenko-Partei und auch Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko, den Chef der Partei Udar (Schlag). Ihnen ist es nach Ansicht von Kommentatoren nicht gelungen, die Gewaltbereiten zurückzuhalten, die im Kampf den einzigen Ausweg sehen. Und Kritiker werfen ihnen vor, keinen eigenen Plan für eine Krisenlösung zu haben.

Jazenjuk und Klitschko hatten sich noch am Montag in Berlin mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie Steinmeier getroffen. Nun geht es auch um ihr persönliches Schicksal. Präsident Janukowitsch ist zwischenzeitlich wie vom Erdboden verschluckt. Der Staatschef meldet sich nicht zu Wort. Nur seine Vertraute Anna German spricht für ihn. Der Staatschef sei weiter im Lande, betont sie, und habe auch mit Oppositionsführern gesprochen. Doch am frühen Abend stehen die Zeichen nicht auf Kompromiss – sondern auf nackte Gewalt.

Livestreams aus Kiew

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Sondersitzung des Parlaments einberufen

Das ukrainische Parlament soll angesichts der eskalierenden Gewalt in Kiew noch am Dienstagabend zu einer Sondersitzung zusammenkommen. Die Abgeordneten seien für 22.00 Uhr Ortszeit (21.00 Uhr MEZ) aufgerufen, sich in der Rada einzufinden, um über einen Ausweg aus der Krise des Landes zu beraten. Das teilte der Abgeordnete Nikolai Rudkowski von der regierenden Partei der Regionen am Dienstag mit.

Der Politiker forderte für die Zeit der Debatte eine Waffenruhe bei den blutigen Ausschreitungen in der Millionenstadt. Zugleich forderte die ukrainische Opposition nach Beginn eines massiven Polizeieinsatzes im Zentrum Kiews Staatspräsident Viktor Janukowitsch zur Beendigung der Gewalt auf.

“Lassen Sie nicht zu, dass die Ukraine ein Staat wird, der in Blut versinkt”, rief Ex-Außenminister Arseni Jazenjuk am Dienstagabend auf dem Unabhängigkeitsplatz. “Unser Aufruf: Ziehen Sie die Polizei zurück und verkünden Sie einen sofortigen Waffenstillstand.” Dann sei die Opposition zu Verhandlungen bereit.

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