Verwüstete Geschäfte, eine brennende Synagoge und Juden, die gedemütigt und verhaftet werden. Später werden die Überfälle rund um diesen Tag als Novemberpogrome oder – nach Diktion der Nazis – als Reichskristallnacht in die Geschichtsbücher eingehen.
Die Schüsse auf Ernst vom Rath
Am Anfang der Novemberpogrome standen die Schüsse auf den deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath in Paris, abgefeuert am 7. November von dem 17-jährigen Juden Herschel Grynszpan, dessen Eltern von den Nazis nach Polen abgeschoben worden waren.
Schon die Nachricht des Attentats löste erste Übergriffe aus. Als vom Rath dann zwei Tage später starb, waren die Folgen für die Juden verheerend.
Die Instrumentalisierung eines Attentats
An diesem 9. November feierten die Spitzen der NSDAP im Alten Rathaussaal in München, auch mit Reichskanzler Adolf Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels. Sie gedachten des – missglückten – Hitler-Putsches 15 Jahre zuvor. Goebbels verstand sofort, wie er das Attentat ausnutzen konnte. Zwar rief er nicht direkt zu Übergriffen auf, doch den anwesenden Führern von Partei und SA war klar, was er mit seiner antisemitischen Hetzrede bewirken wollte.
“Juden sollen den Volkszorn verspüren”
“Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen”, notierte Goebbels später in seinem Tagebuch und schilderte seine Anweisungen an die Polizei und die Parteiführer, die mitfeierten.
“Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln.” Die Devise: “Mal den Dingen ihren Lauf lassen.” Also kein Eingreifen von Polizei und Feuerwehr (siehe auch: Tagebucheinträge von Joseph Goebbels über die Novemberpogrome 1938; Anm.).
SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich schob später ein Telegram hinterher mit der Bitte, deutsches Leben und Eigentum zu verschonen. “zB. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist”, heißt es darin
(Das gesamte Fernschreiben von Heydrich kann hier nachgelesen werden; Anm.)
Organisierte Angriffe von Schlägertrupps
Der Zorn des Volkes über den feigen Mord habe sich hier entladen, propagierten die Nazis. Doch Historiker sprechen von organisierten Angriffen durch Schlägertrupps der Partei und der SA – ohne Uniform, um als normale Bürger zu gelten. Überall im Deutschen Reich brennen Synagogen, werden Schaufenster zertrümmert, Geschäfte geplündert.
Tausende Juden werden gedemütigt, verhaftet und sogar ermordet. Viele werden in den Tod getrieben, rund 30.000 werden anschließend in Konzentrationslager verschleppt.
Über 100 Synagogen in Wien in Brand gesteckt
Im “Ostmark” genannten, seit April 1938 an Hitlerdeutschland angeschlossenen Österreich bleibt nur der Stadttempel in der Seitenstettengasse in Wien einigermaßen verschont und wird nicht in Brand gesteckt – wegen seiner baulichen Verzahnung mit den Nebengebäuden. Die über 100 Synagogen und Bethäuser in Wien werden in Brand gesteckt, verwüstet oder gesprengt. Auch in Linz, Klagenfurt, Salzburg, Innsbruck und anderen Städten werden die Tempel niedergebrannt. In Graz werden die Synagoge am Grieskai und die Zeremonienhalle am Israelitschen Friedhof niedergebrannt.
Judenverfolgung massiv beschleunigt
Die Ereignisse der Pogromnacht hätten “die Judenverfolgung massiv beschleunigt”, sagt der Leiter des Zentrums für Holocauststudien in München, Frank Bajohr. Die Weichen für Vernichtung und systematische Arisierung wurden seit 1933 gestellt durch Gesetze ebenso wie durch die Propaganda, die Juden als böse und minderwertig brandmarkte. Nach Ansicht Bajohrs waren Pogrome schon vor dem 9. November 1938 weitverbreitet. So hatte es etwa in Wien im Frühjahr zuvor Übergriffe mit erschreckenden Ausmaßen gegeben.
“Es hätte nicht ernsthaft des Todes von Herrn vom Rath bedurft, um die Pogrome in Gang zu setzen”, meint der Historiker. “Die Nationalsozialisten befinden sich in einer Position, in der sie glauben, sie können es sich leisten”, stellt Bajohr in der Rückschau fest. Zwar habe es weltweit viel Mitleid mit den Juden gegeben. Aber nur wenige Länder seien bereit gewesen, jüdische Auswanderer in größerer Zahl aufzunehmen. “Das wird von den Nationalsozialisten registriert und höhnisch kommentiert”, berichtet Bajohr.
Hitler auf dem Höhepunkt der Macht
Hitler auf dem Höhepunkt seines Ruhms – so sieht es auch Oliver Hochkeppel vom künftigen NS-Dokumentationszentrum in München. “Es war zu einer Zeit, in der die Zustimmung zum Regime so groß war wie vorher und nachher nie wieder”, erläutert der Historiker. “Hitler ist von außenpolitischem Erfolg zu Erfolg geeilt, war auf dem Höhepunkt seines charismatischen Wegs.”
Rath auf Befehl “geopfert”?
Noch sind viele Abläufe an diesem 9. November unklar. Der Journalist und Buchautor Armin Fuhrer glaubt, dass der Gesandte gar nicht so schwer verletzt war, dass er geopfert wurde, um einen Märtyrer zu haben. “Der Verdacht liegt nahe, dass Hitler seinem Leibarzt den Befehl gab, vom Rath sterben zu lassen und nach außen hin so zu tun, als habe man ihn nicht retten können”, schreibt Fuhrer in seiner kürzlich erschienenen Biografie “Herschel”1.
Ein Attentat als “Geschenk des Himmels”
“1938 brodelte es in der NSDAP, weil viele einfache Parteimitglieder und SA-Leute endlich gegen die Juden losschlagen wollten”, lautet seine Begründung. “Goebbels und Hitler wussten, dass sie auf den Unmut reagieren mussten, da war dieses Attentat ein Geschenk des Himmels.”
Historiker: Pogrome wären ohnehin gekommen
Eine These, mit der sich viele Historiker allerdings nicht anfreunden können, weil sie ihnen zu ungesichert erscheint. Wie es wirklich war, spielt nach Ansicht vieler auch kaum eine Rolle. Die Pogrome wären ohnehin gekommen – früher oder später, meinen sie. Vielleicht, meint Hochkeppel, wäre es dann nicht der 9. November gewesen, sondern ein anderer Tag.
“Vielleicht unser Tod in einem Pogrom”
Schon lange war das Leben der Juden gekennzeichnet von staatlicher Willkür und beständiger Angst, wie ein Tagebucheintrag von Victor Klemperer etwa vom 2. Oktober 1938 zeigt: “Ich glaubte: Heute Abend der Krieg. Vielleicht unser Tod in einem Pogrom.”2
1 Armin Fuhrer, Herschel – Das Attentat des Herschel Grynszpan am 7. November 1938 und der Beginn des Holocaust, Berlin 2013, Berlin Story Verlag, 368 S., 19,80 Euro, ISBN: 978-3863681012
2 Victor Klemperer (Autor) und Walter Nowojski (Hg.), Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten – Tagebücher 1933 – 1945, Berlin 2006, Verlag Aufbau Tb., 1803 S., 34,95 Euro, ISBN: 978-3746655116
(APA/dpa/red)
Du hast einen Hinweis für uns? Oder einen Insider-Tipp, was bei dir in der Gegend gerade passiert? Dann melde dich bei uns, damit wir darüber berichten können.
Wir gehen allen Hinweisen nach, die wir erhalten. Und damit wir schon einen Vorgeschmack und einen guten Überblick bekommen, freuen wir uns über Fotos, Videos oder Texte. Einfach das Formular unten ausfüllen und schon landet dein Tipp bei uns in der Redaktion.
Alternativ kannst du uns direkt über WhatsApp kontaktieren: Zum WhatsApp Chat
Es hat einen Fehler gegeben! Bitte versuche es noch einmal.Herzlichen Dank für deine Zusendung.