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Auschwitz-Überlebende reicht angeklagtem SS-Aufseher die Hand

In einem der letzten großen Auschwitz-Prozesse muss sich Oskar Gröning vor Gericht verantworten.
In einem der letzten großen Auschwitz-Prozesse muss sich Oskar Gröning vor Gericht verantworten. ©EPA
Lüneberg. Er sei ein "armer kleiner Unteroffizier gewesen", sagt der angeklagte SS-Mann Oskar Gröning im Lüneburger Auschwitz-Prozess am Mittwoch. Tags zuvor gesteht er vor Gericht seine moralische Mitschuld am Massenmord in der Todesfabrik der Nazis. Und trotzdem reicht ihm eine Auschwitz-Überlebende im Gerichtssaal die Hand - als Akt der Selbstheilung und der Selbstbefreiung, wie sie sagt. Freisprechen würde ihre Vergebung die Täter nicht.

Im Lüneburger Auschwitz-Prozess hat eine Überlebende des Konzentrationslagers dem angeklagten früheren SS-Mann Oskar Gröning die Hand zur Versöhnung gereicht. “Ich habe den Nazis vergeben”, sagte Eva Kor.

Eva Kor: “Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei”

Die 81-Jährige hat mit ihrer Zwillingsschwester grausame medizinische Experimente in Auschwitz überlebt, die übrigen Familienmitglieder starben dort. “Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei”, betonte sie am Mittwoch, dem zweiten Prozesstag vor dem Landgericht. An Gröning appellierte sie, umfassend auszusagen und auch Neonazis die Wahrheit über Auschwitz zu sagen.

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EPA ©Die Holocaust-Überlebende Eva Kor beim Auschwitz-Prozess gegen Oskar Gröning in Lüneberg. Foto: EPA

Auschwitz-Prozess: KZ-Aufseher gesteht Mitschuld

Gröning wird Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen vorgeworfen. Der 93-Jährige hatte sich zum Prozessbeginn zu seiner moralischen Mitschuld bekannt. In dem bei Krakau gelegenen Lager im besetzten Polen ermordete das nationalsozialistische Regime im Zweiten Weltkrieg mehr als eine Million Menschen, weit überwiegend Juden.

Verzeihen als Akt der Selbstbefreiung

Kor sagte: “Ich hoffe, dass Sie und ich uns als ehemalige Gegner als Menschen begegnen können.” Sie betonte, sie gebe ihre Erklärung nur in ihrem Namen ab. Kor nannte das Verzeihen einen Akt der Selbstheilung und der Selbstbefreiung.

Gröning bestreitet regelmäßigen Dienst an “Rampe”

Gröning setzte seine Aussage fort und bestritt, regelmäßigen Dienst bei der Selektion eintreffender Juden in dem Konzentrationslager geleistet zu haben. An der so genannten Rampe in dem auch Auschwitz II genannten Auschwitz-Birkenau sei er in der fraglichen Zeit während der sogenannten “Ungarn-Aktion” nur dreimal im Einsatz gewesen.

Fall Gröning: Anklage beschränkt sich auf “Ungarn-Aktion”

Die Anklage beschränkt sich aus rechtlichen Gründen auf die rund 137 Transporte aus Ungarn im Sommer 1944. Gröning hatte gestanden, das von den Häftlingen genommene Geld gezählt und nach Berlin gebracht zu haben. Die Anklage wirft ihm vor, so dem NS-Regime wirtschaftliche Vorteile verschafft und das systematische Töten unterstützt zu haben.

»“Man rühmte sich, dass man in 24 Stunden 5000 Tote entsorgen konnte.” (KZ-Aufseher Oskar Gröning vor Gericht)«

Zum systematischen Massenmord an rund einer Million Menschen in Auschwitz sagte Gröning: “Die Kapazität der Gaskammern oder auch der Krematorien war reichlich begrenzt.” Und weiter: “Man rühmte sich, dass man in 24 Stunden 5000 Tote entsorgen könnte.”

Immer wieder zeigte Gröning erhebliche Konzentrationsschwierigkeiten. Von Umbauten in Birkenau 1944 und der blutigen Auflösung des sogenannten “Zigeunerlagers” habe er keine Kenntnis gehabt. “Ich bin ein armer kleiner Unteroffizier gewesen”, sagte der Freiwillige der Waffen-SS.

Oskar Gröning: der “Buchhalter von Auschwitz”

Der gelernte Bankangestellte Oskar Gröning gilt als “Buchhalter von Auschwitz”. Ein Name, der auf einen Bericht des “Spiegel” zurückgeht (siehe weiter unten; Anm.) und haften blieb. Weil er eine Banklehre absolviert hatte, wurde er 1942 in dem Konzentrationslager dafür eingeteilt, zurückgelassenes Geld und Wertgegenstände der neu angekommenen Häftlinge zu zählen und an die SS in Berlin weiterzuleiten. Im September 1944 wechselte er auf eigenen Wunsch in eine Einheit, die an der Front kämpfte.

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oskar-archiv ©Ein Foto aus dem Archiv des Auschwitz-Birkenau-Museums zeigt Oskar Gröning in jungen Jahren in SS-Montur. Quelle: EPA/ Auschwitz-Birkenau state museum in Oswiecim (handout)

Nach dem Krieg kam Gröning zunächst in britische Gefangenschaft, dann lebte er mit Frau und Kindern ein bürgerliches Leben in der Lüneburger Heide. Gegen den heute 93-Jährigen wurde bereits 1977 ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt stellte das Verfahren im März 1985 aber mangels Beweisen ein.

1985: Auschwitz-Offizier bricht das Schweigen

Gröning schwieg bis 1985, dann sprach er, auch gegen frühere Kameraden sagte er aus. In einer Dokumentation der britischen BBC berichtete er über das, was er in Auschwitz sah und tat. Er selbst beschrieb sich dabei als “Rädchen im Getriebe”. Auch dem “Spiegel” hatte Gröning von seiner Zeit in Auschwitz berichtet. Das Porträt “Der Buchhalter von Auschwitz” schildert ihn als jemanden, der seit Jahrzehnten nach einem anderen Wort für Schuld sucht.

“Ein Teil von ihm will sich rechtfertigen”, sagt Judith Kalman nach Grönings Aussage. “Der Teil weiß, dass es falsch war.” Sie ist Nebenklägerin, ihre Halbschwester Eva Weinberger wurde in Auschwitz ermordet, Eva war erst sechs. “Der andere Teil sagt: Ich musste es tun, weil man es befohlen hat und weil es notwendig war.”

“Er hat nicht wirklich viel gesagt. Ich bin ein wenig enttäuscht”, hatte Eva Kor am Dienstag nach Grönings Aussage vor Gericht zu Protokoll gegeben.. “Er versucht, mit seiner Schuld umzugehen”, glaubt auch sie. Andererseits: “Er hätte sich wie tausende andere Nazis im Schatten verbergen können. Wenige hatten den Mut, nach vorne zu treten”, hat sie am Morgen gesagt. “Man kann die Vergangenheit nicht ändern, aber man kann Verantwortung übernehmen.”

Lüneberg: Der Kreis schließt sich

Lüneburg ist nur wegen Gröning Wohnort zum Schauplatz einer der letzten großen Auschwitz-Prozesse geworden. Und doch ist es so, als ob sich ein Kreis schließen würde. Hier fand 1945 der erste große Kriegsverbrecherprozess statt. Im Mittelpunkt standen die in Bergen-Belsen begangenen Verbrechen, doch auch Auschwitz wurde durch den Prozess weltweit bekannt. Elf Angeklagte wurden damals zum Tode verurteilt, nur rund einen Kilometer von dem Ort entfernt, wo das Landgericht nun über Gröning urteilen muss.

Kor-Zwillinge überstehen Mengele-Experimente

Die 81-jährige Eva Kor schilderte anschließend die Ankunft ihrer Familie im Lager im Mai 1944 mit den Eltern und ihren drei Schwestern, darunter Zwillingsschwester Miriam. “Nur 30 Minuten nach der Ankunft an der Rampe wurden Miriam und ich für immer von unserer Familie getrennt”, sagte sie. Nur die beiden Mädchen hätten überlebt. Die Schwestern gehören zu den wenigen Zwillingen, die die vom gefürchteten Lagerarzt Josef Mengele, dem “Todesengel von Auschwitz”, geleiteten Experimente überstanden.

Kor beschrieb in ihrer Erklärung die grauenvollen Versuche. “Ich krabbelte auf dem Boden, weil ich nicht mehr gehen konnte”, sagte sie, nachdem man ihr eine Injektion mit bis heute unbekanntem Inhalt verabreicht hatte. “70 Jahre später bin ich hier, weil ich nicht aufgegeben habe.”(SJI)

Literaturhinweis: Eva Mozes Kor, Lisa Rojany Buccieri: “Ich habe den Todesengel von Auschwitz überlebt: Ein Mengele-Opfer erzählt”

“Auschwitz-Überlebende kritisieren deutsche Justiz”: zum Bericht

Dossier: 70 Jahre Befreiung von Auschwitz

Die Hölle von Auschwitz: Zum Themen-Special über die Todesfabrik der Nazis.

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In Gedenken: Zur Homepage des Auschwitz-Birkenau-Memorials

(dpa/red-jim)

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