Es wird aber befürchtet, dass noch zahlreiche weitere Bergarbeiter unter Tage in der tödlichen Falle stecken. Zum Zeitpunkt des Unglücks am Dienstag, als nach einer Explosion in der Kohlegrube im westtürkischen Soma ein Feuer ausbrach, waren nach Angaben von Yildiz 787 Kumpel in der Grube. Die größte Gewerkschaft des Landes (KESK) macht die Privatisierungspolitik der Regierung für das Unglück verantwortlich und hat für den heutigen Donnerstag zu einem Proteststreik aufgerufen.
Die körnigen Schwarzweiß-Bilder einer Überwachungskamera zeigen ein leeres Förderband unter Tage. Plötzlich blitzen die Stirnlampen von Männern auf, die einen verletzten Arbeiter aus dem Kohlebergwerk bei Soma in der Provinz Manisa im Westen der Türkei führen: Der Arbeiter hat Glück gehabt, er gehört zu den Überlebenden des verheerenden Grubenunglücks.
Überlebende Kumpel verlassen das Bergwerk:
Sechs Arbeiter mehr als 18 Stunden danach geborgen
Mehr als 18 Stunden nach dem Unglück haben Rettungskräfte sechs weitere Überlebende geborgen. Unklar sei, ob die Männer verletzt seien, berichtete die Zeitung “Hürriyet” am Mittwoch in ihrer Onlineausgabe.
A man kisses his son, rescued from the mine, after an explosion in a coal mine in Manisa, Turkey, by @Kilicbil pic.twitter.com/c64aFAxc0R
— Agence France-Presse (@AFP) 13. Mai 2014
Energieminister Taner Yildiz hatte in der Nacht mitgeteilt, zum Zeitpunkt der Explosion am Dienstagnachmittag hätten sich vermutlich 787 Arbeiter in der Zeche aufgehalten. Es sei Schichtwechsel gewesen, daher sei die Zahl so hoch, aber auch schwer zu schätzen. Später wiederholte er diese Zahl nicht.
Die Rettungskräfte haben vorerst mehr als 90 Menschen aus der Grube befreit. 85 von ihnen wurden verletzt. Bergarbeiter sagten, unter Tage brenne es noch immer. Über dem Bergwerk standen dichte Rauchwolken. Viele der geborgenen Toten seien erstickt, sagte Yildiz.
Möglicherweise 15-Jähriger unter Opfern
Unter den Toten ist möglicherweise ein erst 15-jähriger Junge. Die Zeitung “Hürriyet” zeigte am Mittwoch in ihrer Online-Ausgabe ein Video, auf dem ein Mann beklagt, er habe seinen 15 Jahre alten Neffen bei dem Unglück in der Zeche Soma verloren. Yildiz sagte dagegen laut “Hürriyet”, es könne nicht sein, dass ein 15-Jähriger in einem Bergwerk arbeite. Auch sei niemand mit dem von dem Mann genannten Namen und in dem Alter unter den Toten.
In Soma regieren nunmehr Schock und Trauer – und bei einigen macht sich schon Wut auf die Behörden breit. Die Grube in Soma ist einer der größten Arbeitgeber der Region in der Provinz Manisa. Rund 6.500 Kumpel arbeiten hier.
Brand nach Explosion: Stromausfall macht Flucht unmöglich
Die meisten der noch immer verschütteten Kumpel befinden sich 2000 Meter unter der Erde und damit etwa vier Kilometer vom Eingang entfernt. Weitere Bergleute harren in etwa 420 Metern Tiefe aus.
Angehörige zwischen Hoffen und Bangen
Vor dem Eingang zum Bergwerk und vor dem Kreiskrankenhaus von Soma laufen unterdessen die Verwandten der Eingeschlossenen zusammen und versuchen verzweifelt, Neuigkeiten über ihre Väter und Söhne zu erfahren.
“Seit dem frühen Nachmittag warte ich nun schon,” sagt Sena Isbiler, die Mutter eines Bergarbeiters, die vor der Grube auf einem Stapel Holz steht und versucht, über die Köpfe der anderen Wartenden hinweg einen Blick auf die Glücklichen zu erhaschen, die erschöpft und mit rußgeschwärzten Gesichtern aus dem Bergwerk geführt werden. Isbiler wartet weiter. “Bisher habe ich noch nichts gehört.”
Retter versuchen Arbeiter mit Frischluft zu versorgen
Die Behörden schicken vier Rettungsteams in die Grube, die versuchen, den Brand unter Tage zu löschen. Die Retter pumpten Frischluft in die Kohlegrube, in der Hoffnung, dass die Eingeschlossenen überleben könnten.
Ein Kühlhaus, in dem sonst Lebensmittel gelagert werden, diente als Leichenhalle. Auch in Kühllastern lagen Tote. Das Krankenhaus der Stadt war überfüllt. Tausende Angehörige und Kollegen drängten sich vor dem Gebäude und hofften auf Nachrichten. Sicherheitskräfte riegelten den Eingang zur Grube ab, damit die verzweifelten Familien und Kumpel nicht die Rettungsarbeiten behinderten.
“Süßer Tod”: Kumpel drohen zu ersticken
Im Fernsehen sorgt ein Experte für wütende Reaktionen der Zuschauer, als er die Folgen einer Monoxid-Vergiftung unter Tage als “süßen Tod” bezeichnet, bei dem der Betroffene keinerlei Schmerzen spüre.
Stichwort Kohlenmonoxid-Vergiftung
Das giftige Kohlenmonoxid (CO) ist ein brennbares, fast geruch- und geschmackloses Gas. Es entsteht bei Bränden in geschlossenen Räumen. Wer hohen Konzentrationen davon ausgesetzt ist, kann innerhalb weniger Minuten sterben. Schon geringe Mengen führen dazu, dass das Blut deutlich weniger Sauerstoff transportiert.Soma. Bei einer Vergiftung kommt es zu Atemnot, Husten, Verwirrtheit, Erbrechen und Herzversagen. Wer gerettet wird, leidet mitunter noch Monate später an Gedächtnisstörungen, Lähmungen oder Schwindel. Zur Therapie einer Vergiftung kann eine Sauerstoffüberdruckbehandlung eingesetzt werden.
Retter im Kampf gegen die Zeit
“Die Zeit läuft gegen uns”, sagt der Energieminister, der bereits in der Nacht am Grubeneingang stand und zusah, wie die verletzten Überlebenden ins Freie gebracht wurden. Tod durch Erstickung ist die größte Gefahr, sagt der Bergbau-Professor Vedat Didari von der Bülent-Ecevit-Universität im türkischen Kohlerevier in Zonguldak am Schwarzen Meer. “Wenn die Frischluftventilatoren an der Decke ausfallen, können die Arbeiter innerhalb einer Stunde sterben.”
Arbeiter: “Es gibt hier keine Sicherheit”
Noch während die Rettungsarbeiten im vollen Gange sind, beginnt die Debatte über die Gründe für das Unglück. Behörden und Grubenleitung sprechen von einem tragischen Unfall und betonen, das privat betriebene Bergwerk sei erst kürzlich kontrolliert worden. Doch angesichts der häufigen Unglücke in türkischen Gruben sind die Zweifel groß. “Es gibt hier keine Sicherheit”, sagt der Arbeiter Oktay Berrin in Soma. “Die Gewerkschaften sind nur Marionetten, und die Geschäftsleitung denkt nur ans Geld.”
Trägt Erdogans AKP Mitschuld?
Kilicdaroglus Oppositionspartei CHP war erst vor wenigen Wochen im Parlament von Ankara mit dem Versuch gescheitert, Zwischenfälle in der Grube von Soma untersuchen zu lassen: Erdogans Regierungspartei AKP bügelte den Antrag ab. Kritiker werfen der Regierung vor, bei der Privatisierung vieler ehemals staatlicher Bergbaufirmen in den vergangenen Jahren die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen ignoriert zu haben.
Gewerkschaft nennt Unglück “Massaker”
Für den linken Gewerkschaftsbund DISK ist das Unglück von Soma deshalb ein “Massaker”, wie der Vorsitzende Kani Beko sagt. In Gruben wie in der von Soma seien ganze Ketten von Subunternehmern am Werk, die nicht vernünftig kontrolliert würden. Sicherheitsvorschriften würden außer Acht gelassen: “Es geht nur um den Gewinn.”
Gewaltsame Proteste in Ankara
Während die Angehörigen am Unglücksort bangen, hat sich in Ankara aufgrund des Bergwerksunglück ein schwerer Protest entzündet. Die Demonstranten wollten von einer Universität in der türkischen Hauptstadt in Richtung des Energieministeriums marschieren.
Die Polizei reagierte mit Gewalt und ging mit Tränengas und Wasserwerfer gegen hunderte Demonstranten vor. Etwa 800 Demonstranten warfen Steine auf die Beamten und riefen regierungsfeindliche Parolen, wie ein Fotograf der Nachrichtenagentur AFP berichtete.
Türkischer Fußballverband sagte Spiele ab
Indes sagte der nationale Fußballverband (TFF) alle für Mittwoch und Donnerstag geplanten Spiele ab. Die Begegnungen würden auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, teilte der TFF mit. Bei den Partien, die zwischen Freitag und Sonntag stattfinden, werde keine Musik gespielt. Die Spieler würden schwarze Armbinden tragen. Zudem solle vor den jeweiligen Begegnungen mit einer Schweigeminute der mehr als 200 Toten der Katastrophe vom Dienstag gedacht werden.
Flaggen im ganzen Land auf Halbmast
Die Flaggen in der Türkei stehen seit Mittwoch auf Halbmast, die Regierung rief eine dreitägige Staatstrauer aus. Nach Regierungsangaben handelt es sich vermutlich um das schwerste Grubenunglück in der Geschichte des Landes.
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Das bisher tödlichste Grubenunglück in der Türkei ereignete sich 1992 in der Provinz Zonguldak am Schwarzen Meer. Damals kamen durch eine Gasexplosion 263 Arbeiter ums Leben. In derselben Region wurden im Mai 2010 bei einer weiteren Gasexplosion 30 Bergleute getötet.
Explosionen, Feuer, Wasser: Schwere Grubenunglücke weltweit
Die Arbeit von Bergleuten ist gefährlich. Schon Tausende kamen bei Unglücken unter Tage ums Leben – schuld sind oft Sicherheitsmängel. Immer wieder jedoch konnten Kumpel aus der Tiefe befreit werden.
August 2010: In der Atacama-Wüste in Chile werden 33 Bergleute in einer Kupfer- und Goldmine verschüttet. Mitte Oktober werden alle einzeln mit einer Rettungskapsel an die Erdoberfläche gebracht.
Juni 2010: Eine Methangasexplosion bringt eine Kohlegrube südlich von Medellin in Kolumbien teilweise zum Einsturz. Mindestens 73 Menschen kommen ums Leben.
Mai 2010: Bei einer Methangas-Explosion in einer westsibirischen Kohlegrube werden mehr als 60 tote Bergleute geborgen, mehr als 20 bleiben vermisst. Gut 280 Bergleute können den Schacht kurz nach der Explosion verlassen.
Mai 2009: In einer südafrikanischen Goldmine südwestlich von Johannesburg bricht ein Feuer aus. 82 illegal tätige Goldgräber kommen ums Leben.
Dezember 2007: Nach einer Gasexplosion in einer Kohlegrube im Norden Chinas melden die Behörden 105 Tote. Die meisten Opfer starben den Angaben zufolge an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung.
November 2007: Nach einer Gasexplosion in einem Kohlebergwerk der ostukrainischen Stadt Donezk kommen mehr als 100 Bergleute ums Leben. Über 350 Kumpel können aus der Tiefe gerettet werden.
August 2007: Nach einem Dammbruch wird ein Kohlebergwerk in der ostchinesischen Provinz Shandong überflutet. Mehr als 170 unter Tage eingeschlossene Arbeiter haben keine Überlebenschance. Mehr als 580 Bergleute werden gerettet.
Februar 2005: Beim schwersten Grubenunglück in China seit Jahrzehnten kommen in der nordöstlichen Provinz Liaoning mindestens 214 Kumpel ums Leben. Auf ein Grubenbeben folgte eine Gasexplosion.
(red/APA/dpa/AFP)
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