In Großbritannien kündigte ein sichtlich bewegter Premierminister David Cameron seinen Rücktritt bis Oktober an. Er zog damit die Konsequenzen aus dem Referendum über den Verbleib in der EU, den 51,89 Prozent der Wähler abgelehnt hatten. 48,11 Prozent wollten in der EU bleiben. Erst Camerons Nachfolger soll dann formell bei der EU den Austritt Großbritanniens erklären.
Boris Johnson, der das Amt möglicherweise übernehmen könnte, demonstrierte Gelassenheit. “Es gibt keinen Grund zur Hast”, sagte er, auf einen langen Prozess des Abschiedes hindeutend. Er sehe auch keine Notwendigkeit, von Artikel 50 des Lissabon-Vertrages Gebrauch zu machen, so Johnson, einer der führenden Köpfe der Brexit-Kampagne. Dieser würde den Abschluss von Austrittsverhandlungen binnen zwei Jahren nötig machen.
EU fordert raschen Abschied
Die EU-Führung forderte hingegen eine möglichst schnelle Umsetzung des Votums – “so schmerzhaft dieser Prozess auch sein mag”, erklärten EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk, Parlamentspräsident Martin Schulz und der niederländische Regierungschef Mark Rutte, dessen Land derzeit den EU-Vorsitz innehat.
Während Ankara das britische Votum als Beginn des Zerfalls der EU wertete, waren die EU-Spitzen um Einigkeit bei den verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten bemüht. Tusk betonte, er könne im Namen der verbleibenden EU-Mitglieder sagen, dass diese entschlossen seien, “unsere Einheit zu 27 zu erhalten”. Am Dienstag und Mittwoch findet ein EU-Gipfel in Brüssel statt. Das Europaparlament kommt am Dienstag zu einer Sondersitzung zusammen.
Schottland will Unabhängigkeitsreferendum
Aber nicht nur die EU, auch dem Vereinigten Königreich selbst könnte ein Zerfall drohen. So kündigte die schottische Regierungspartei SNP an, dass ein zweites Unabhängigkeitsreferendum nun “höchstwahrscheinlich” sei. Sie werde sich dafür einsetzen, Schottlands Platz in der Europäischen Union zu sichern, so die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Ihre Landsleute im Norden der Insel hatten sich mehrheitlich für den Verbleib in der EU ausgesprochen, während Großbritannien insgesamt für den Austritt votierte.
Während sich ganz Europa nach Briten-Votum verwundert die Augen reibt erklingen auch Jubelrufe. “Sieg der Freiheit”, sagt Frankreichs rechtsextreme Parteichefin Marine Le Pen, der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders twittert ein “Hurra auf die Briten” und die FPÖ forderte den Rücktritt von EU-Spitzen. “Danke Großbritannien, jetzt sind wir an der Reihe”, verkündete unisono Matteo Salvini, der Vorsitzende von Italiens ausländerfeindlicher Lega Nord.
Trump begrüßt “Brexit”
Begrüßt hat das Votum auch der designierte Kandidat der Republikaner für die US-Präsidentenwahl, Donald Trump. Die Briten hätten die Kontrolle über ihr Land zurückgewonnen, sagte er bei der Eröffnung eines Golf-Hotels in Schottland. Der Zerfall der EU habe begonnen.
Kanzler Kern sieht hingegen keine Anzeichen für einen “Dominoeffekt”, wenngleich er auch einen Verlust der Stellung und Bedeutung Europas in der Welt ortete.
Merkel warnte vor voreiligen Beschlüssen, die Europa weiter spalten könnten. Frankreichs Präsident Francois Hollande sagte, die EU dürfe nun nicht zur Tagesordnung übergehen. Ähnlich äußerte sich der italienische Regierungschef Matteo Renzi. Merkel lud Hollande und Renzi, aber auch Tusk zu Krisengesprächen für Montag in Berlin ein.
Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy versicherte, sein Land bleibe der EU verpflichtet, gleichzeitig erneuerte Außenminister Jose Manuel Garcia-Margallo die spanischen Ansprüche auf die britische Exklave Gibraltar. In Spanien stehen kommenden Sonntag vorgezogene Neuwahlen an. Dort haben EU-kritische Linkspopulisten in Umfragen zulegen können.
Farage rudert zurück
Der britische Rechtspopulist Nigel Farage distanzierte sich indes – bereits wenige Stunden nach dem Resultat – von einem zentralen Versprechen der Brexit-Kampagne. Er könne nicht garantieren, dass wie von den Brexit-Befürwortern angekündigt 350 Millionen Pfund pro Woche statt an die EU nun an das Gesundheitssystem NHS gingen. “Das war einer der Fehler, den die ‘Leave’-Kampagne gemacht hat”, so der Farage, der gleichzeitig frohlockte: “Die EU stirbt.”
An den Börsen löste das Nein der zweitgrößten europäischen Volkswirtschaft zur EU drastische Kursverluste aus. Das britische Pfund stürzte auf ein 30-Jahres Tief. Auch der ATX stürzte am Freitagvormittag massiv ein. Insgesamt dürften die Verluste für die österreichische Wirtschaft jedoch relativ gering ausfallen.
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