Nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi durch das Militär steht die Zukunft des Landes auf Messers Schneide. Als Übergangspräsident wurde am Donnerstag der Präsident des Verfassungsgerichts, Adli Mansur, vereidigt. Der 67-Jährige soll die Geschicke des Landes bis zu Neuwahlen lenken.
Nach tagelangen teils blutigen Massenprotesten für und gegen den Islamisten Mursi hatte das Militär den ersten freigewählten Präsidenten Ägyptens am Mittwochabend gestürzt und unter Arrest gestellt. Weltweit löste die Entwicklung Sorge vor weiterer Gewalt bis hin zu einem Bürgerkrieg aus. Zwar werde die islamische Organisation selbst nicht zu den Waffen greifen, sagte der hochrangige Muslimbruder Mohammed Al-Beltagi am Donnerstag bei einer Protestaktion vor einer Moschee in Kairo. Andere Gruppen könnten sich jedoch “zurück zur Idee von Veränderung durch Gewalt” gedrängt sehen. Adli Mansour reichte der Gruppe die Hand: Sie seien ein Teil der Nation und eingeladen, an deren Gestaltung mitzuwirken, erklärte er.
Mindestens zwölf Tote nach Machtübernahme
Bei Krawallen in der Nacht wurden nach Angaben staatlicher Medien mindestens ein Dutzend Menschen getötet. Wie ägyptische Medien am Donnerstag berichteten, kamen bei Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern Mursis mindestens sechs Menschen in der nördlichen Stadt Marsa Matruh ums Leben. In dem Küstenort sind die Islamisten sehr stark. Drei Tote habe es in Alexandria sowie im oberägyptischen Minja gegeben. Auch in Fajum südlich von Kairo sei es zu tödlicher Gewalt gekommen. Fast 500 weitere Menschen wurden verletzt. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo feierten bis zum Morgengrauen Hunderttausende den Sturz Mursis nach nur einem Jahr und drei Tagen im Amt.
Mursi von Militärs festgesetzt
Mursi, der sich am Donnerstag im Verteidigungsministerium im Gewahrsam des Militärs befand, bezeichnete seine Entmachtung in einer ersten Reaktion als “klaren Militärputsch”. “Ich bin der gewählte Präsident Ägyptens”, erklärte er in einer Botschaft, die er über das Internet verbreitete. Der erzwungene Machtwechsel werde “von allen freien Menschen des Landes abgelehnt, die dafür gekämpft haben, dass Ägypten eine zivile Demokratie wird”.Armee will nicht regieren
Die Bezeichnung “Putsch” lehnten die Generäle auch deshalb ab, weil sie nicht selbst die Macht übernehmen wollten. “Es wird eine starke und kompetente, aus Technokraten bestehende nationale Regierung gebildet, die die komplette Vollmacht hat, in der gegenwärtigen Periode zu regieren”, erklärte Verteidigungsminister Abdel Fattah al-Sisi in einer Fernsehansprache, in der er die Entmachtung Mursis bekanntgab.
Mansur soll an der Spitze einer parteiübergreifenden Übergangsregierung stehen, deren Zusammensetzung noch nicht bekannt ist. Dieses Kabinett soll Neuwahlen für die Präsidentschaft und das Parlament vorbereiten. Der Zeitrahmen dafür ist noch unklar. Die neue Regierung soll außerdem Verfassungsänderungen ausarbeiten. Das Militär hatte die Verfassung außer Kraft gesetzt.
Die wichtigsten Punkte aus der Fernsehansprache von Armeechef al-Sisi:
- Aussetzung der Verfassung
- Bildung eines Gremiums aus Vertretern der Gesellschaft und Experten, um Verfassungsänderungen zu prüfen
- Einsetzung des Verfassungsgerichtspräsidenten Adli Mansour als Präsident für die Übergangszeit. Er darf Dekrete erlassen.
- Vorgezogene Präsidentenwahlen
- Einsetzung einer Expertenregierung, die mit vollen Rechten ausgestattet ist
- Erlass von Regeln, um Pressefreiheit zu gewährleisten
- Vorbereitung von Parlamentswahlen durch das Verfassungsgericht
- Gründung einer Versöhnungskommission
Jagd auf Muslimbrüder
Die Muslimbruderschaft, aus der Mursi stammt, sprach von einer Vergeltungsaktion des alten Regimes. Mursis Team und Spitzenpolitiker der Muslimbrüder seien festgenommen worden, teilte Sprecher Gehad al-Haddad im Kurzmitteilungsdienst Twitter mit. Für Hunderte Muslimbrüder gelte ein Ausreiseverbot. Darüber hinaus habe das Militär sechs Satellitenkanäle geschlossen.
Am Donnerstag Nachmittag wurde der Chef der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie, festgenommen. Gegen ihn und seinen Stellvertreter Khairat al-Shater waren am Haftbefehle erlassen worden. Beiden wird vorgeworfen, die tödlichen Zusammenstöße zwischen Anhängern und Gegnern Mursis am Sonntag vor dem Hauptsitz der Muslimbrüder in Kairo provoziert zu haben.
Internationale Bedenken
UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zeigte sich besorgt über das Vorgehen der Armee. Militärisches Eingreifen in die Angelegenheiten eines Staates sei immer bedenklich, erklärte er nach Angaben eines Sprechers. US-Präsident Barack Obama vermied das Wort “Putsch”, sagte aber, dass er eine Überprüfung der Militärhilfe für Ägypten veranlasst habe. Bundesaußenminister Guido Westerwelle bezeichnete den Umsturz als schweren Rückschlag für die Demokratie in Ägypten. Der britische Außenminister William Hague kritisierte Mursis Absetzung, sicherte der neuen Führung in Kairo aber die Zusammenarbeit zu.
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas gratulierte dem ägyptischen Interimspräsidenten Adli Mansour schon nach wenigen Stunden zur Amtsübernahme, wobei er die Rolle der ägyptischen Armee besonders lobte.
Nachbar Israel beobachtet die Entwicklung
Der frühere israelische Botschafter in Kairo, Eli Shaked, hofft auf eine baldige Beruhigung der Lage: “Chaos und mangelnde Stabilität liegen nicht im Interesse Israels, weil jedes Land kalkulierbare Nachbarn braucht”, sagte der frühere Diplomat der Nachrichtenagentur dpa. Israel beobachte die Entwicklung nach dem Sturz von Präsident Mohammed Mursi durch das Militär sehr genau. Ein anderer israelischer Ex-Botschafter in Kairo, Zvi Mazel, begrüßte den Sturz Mursis hingegen ausdrücklich: “Was heute Nacht passiert ist, ist ein Segen für Ägypten – die Muslimbrüder, die Ägypten und alle arabischen Nachbarländer destabilisiert haben und die ein Hindernis für Fortschritte in Richtung des 21. Jahrhunderts darstellten, sind entfernt worden.”
Iran warnt Ausland vor Eingreifen
Der Iran hat das Ausland vor einer Einmischung in Ägypten gewarnt. “Wir hoffen, dass der demokratische Prozess in Ägypten fortgesetzt wird”, sagte der Sprecher des Außenministeriums in Teheran laut Mitteilung am Donnerstag. “Wir hoffen aber ebenso, dass das ägyptische Volk auch in der derzeit brisanten Lage jegliche Einmischung von Fremden und Feinden des Landes unterbinden wird.”
Nach drei Jahrzehnten diplomatischer Eiszeit hatte sich der Iran von der Revolution in Ägypten und der Präsidentschaft Mursis eine Wiederaufnahme der Beziehungen mit Kairo versprochen. Aber trotz ideologischer Gemeinsamkeiten blieb diese erhoffte Wende nicht nur aus, die Beziehungen erreichten sogar einen erneuten Tiefpunkt. Grund dafür war Mursis Unterstützung für die Rebellen im Syrienkonflikt. Teheran unterstützt die Regierung von Präsident Bashar al-Assad.
Türkei verurteilt Eingreifen der Armee
Die islamisch-konservative Regierung der Türkei hat den Sturz Mursis scharf kritisiert. Es sei extrem besorgniserregend, dass das Militär einen gewählten Präsidenten aus dem Amt entfernt habe, sagte Außenminister Ahmet Davutoglu. Es sei nicht hinnehmbar, dass Politiker wie Mursi festgenommen oder unter Hausarrest gestellt würden. Alle politischen Akteure sollten ohne Einschränkungen und ohne Diskriminierung an Wahlen in Ägypten teilnehmen.
Pressefreiheit in Gefahr?
Die Journalistenvereinigung “Reporter ohne Grenzen” mahnt angesichts der Umwälzungen die neuen Machthaber, die Pressefreiheit zu schützen. Dabei wurde auf Berichte über Einschüchterungen und Festnahmen von Journalisten verwiesen. Die Ankündigung der Armee, als Teil ihres Übergangsplans solle ein “Medien-Ehrenkodex” erarbeitet werden, sei bedenklich.
Die Muslimbruderschaft war sowohl aus der Parlaments- als auch der Präsidentenwahl als stärkste Kraft hervorgegangen. Die Protestbewegung kritisierte Mursi wegen seines autoritären Führungsstils, einer fortschreitenden Islamisierung im Land und auch wegen einer dramatisch verschlechterten Wirtschaftslage. (dpa/APA/red)
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