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25 Jahre Tschernobyl: Mit Geigerzähler auf Abenteuertour

25 Jahre nach der Katastrophe in Tschernobyl bieten Tourismusbüros Erlebnisausflüge in die Sperrzone an. Ein Erlebnisbericht!
Tschernobyl: Eine Abenteuertour

Tschernobyl: Wäre dieses nervöse Piepsen nicht, man könnte sich direkt langweilen. Holprige Straßen, endlose Wälder, alles graubraun in graubraun. Hie und da ein paar Menschenseelen, meist Waldarbeiter. Ein breiter, zäher Fluss, immer wieder monströse Gebäude im Hintergrund; rostig, desolat, sogar aus der Ferne. Plötzlich hält der Reisebus, Menschen mit Fotoapparaten steigen aus, es beginnt wieder nervös zu piepsen. Die nervigen Geräusche stammen vom Geigerzähler – und der ist in heller Aufruhr. Kein Wunder: 200 Meter entfernt bäumt sich Tschernobyls Unglücksreaktor auf; unheimlich, unwirklich, apokalyptisch. Erstmals Gänsehaut. Doch die Tour durch die Sperrzone hat eben erst begonnen. 

Mit dem Geigerzähler nach Tschernobyl

Noch ist Sascha in seiner etwas zerschlissenen Uniform kein Tourist-Guide im Stile mediterraner Club-Animateure. Sachlich, leise, fast schüchtern erklärt er, was eben zu erklären ist: Dass man hier in Tschernobyl damals, nach dem 26. April 1986, eifrig aufgeräumt habe und viele dabei gestorben seien; dass man die schwer verstrahlten Lkw und Bagger in riesige Gruben geschoben habe und dann Sand über alles gekippt worden sei; dass man mit den umliegenden 76 Dörfern ganz genauso verfahren sei; und dass er an dem vom Plutonium in Rot getauchten Waldstück lieber vorbeifahren und nicht anhalten möchte, weil dort auszusteigen einfach zu gefährlich wäre – und zwar für die nächsten 241.000 Jahre. Zehn Halbwertszeiten müsse man abwarten, bis die ehemalige Grünoase wieder betretbar sei. Das ist Tschernobyl.Tschernobyl hat sich verändert. Nicht die Gegend rund ums Kraftwerk, deren Schockstarre nun schon seit 25 Jahren andauert. Vielmehr in den Köpfen der Menschen hat das einstige Synonym für die verheerenden und todbringenden Folgen von Kernkraftkatastrophen an Angst und Schrecken abgebaut, schneller als die meisten strahlenden Elemente, die sich wie ein unsichtbarer Mantel über eine Fläche in der Größe von fast 1.000 Quadratkilometern gelegt haben.

Tschernobyl für Touristen

Die Tourismusbranche erkennt nun langsam, dass mit einem Abenteuertrip ins Herz der 30-Kilometer-Sperrzone in Tschernobyl rund um den explodierten Reaktorblock 4 gutes Geld zu machen wäre. Und gerade im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft EURO 2012 wird Tschernobyl zwar noch zaghaft, aber mit doch stetig wachsendem Angebot im Internet als Kurzurlaubsdestination angepriesen. Einen Tag auf Tuchfühlung mit Radioaktivität zu gehen, die nach wie vor weit jenseits jeglichen Grenzwertes liegt, scheint auf immer mehr Menschen großen Reiz auszuüben. Vom großen Geschäft ist Sascha noch weit entfernt. Im “Besucherzentrum”, einem heruntergekommenen Quartier für ihn und seine Kollegen, führt er die Gäste rasch und mit knappen Worten an ein paar vergilbten Aufnahmen vorbei, bevor jeder Teilnehmer der Tour per Unterschrift versichern muss, dass er einigermaßen weiß was er da tut und dass Strahlung nicht gesund ist. Man kann sie schon erahnen, die Ansichtskarten, Schlüsselanhänger, Feuerzeuge, Kugelschreiber und Leiberln, die es vielleicht genau hier in Tschernobyl irgendwann zu kaufen geben und über die Sascha wohl ein wenig befremdet den Kopf schütteln wird. “I survived Chernobyl and all I got was this lousy T-Shirt.”

Reaktor in Tschernobyl

Straff und streng läuft das Programm vor Block 4 in Tschernobyl ab. Den Sarkophag fotografieren ist nur fünf Minuten lang erlaubt, dann geht es hinein in eine Art Schauraum, in dem ein gut gekleideter Herr mit Zeigestab ein Modell vom geschmolzenen Reaktor, der ein bisschen einem Puppenhaus ähnelt, minuziös und dementsprechend lang erklärt. Hinter der Panoramascheibe ragt wieder Block 4 in die Höhe, spärlich eingerüstet, denn die Vorbereitungen für den neuen Sarkophag laufen auf Hochtouren – seit einigen Jahren schon. Die Tour nähert sich nun ihrem Höhepunkt, dem radioaktiven Showdown, der Attraktion schlechthin: Pripyat. Bis zum 28. April 1986 galt die 50.000-Einwohner-Stadt als Vorzeigeprojekt für die gesamte Sowjetunion. Techniker und Wissenschafter rissen sich um einen Job in Tschernobyl, denn das bedeutete, ein Privilegierter zu sein: Pripyat spielte sozusagen alle Stückerln, die es im Rest des kommunistischen Riesenreiches nicht spielte: Die Lebensmittelläden waren ständig gefüllt, es gab moderne Schulen, Kindergärten, ein Krankenhaus, ein Hotel, einen Kulturpalast, einen Vergnügungspark und ein Fußballstadion. Wer das Angebot ausschlug nach Pripyat zu ziehen, dem war eigentlich nicht mehr zu helfen.

Keine Krähe in Tschernobyl

Die Stadt gibt es noch, oder besser: ihre Gebeine. Zwischen immer dichter wachsendem Gestrüpp halten die Hüllen der ehemaligen Top-Adresse die Stellung. Nichts bewegt sich, keine Amsel im Unterholz, keine Krähe weit oben auf den Hochhäusern, wo noch Hammer und Sichel prangen. Nichts. Absolute Stille. Das ist Tschernobyl 2011. Seit dem 28. April 1986 ist Pripyat nur noch ein Standbild, leer, stumm, tot. Lediglich in den riesigen Hallen der Häuser “am Platz” sorgen Wassertropfen, die aus den Millionen Mauerritzen tropfen, für ein gleichmäßiges Hintergrundgeräusch. Sporthalle mit Blick auf ein kleines Riesenrad, ein Ball ohne Luft hat vor einem Handballtor seine letzte Position eingenommen und verrottet. In den Klassen hängen Fotos von Lenin und anderen Helden der UdSSR, auf den Böden und Bänken liegen verstreut Schulhefte, als wären sie gestern irrtümlich vergessen worden. Zur Gänsehaut haben sich längst betretenes Schweigen und Unbehagen gemischt. Selbst der genialste Kulissenbauer Hollywoods würde so eine Atmosphäre nie und nimmer hinbekommen. Sofort fallen einem die einschlägigen Filmtitel ein. “The Day after” zum Beispiel. Da meldet sich Sascha zu Wort: “Bitte nicht in das Moos steigen.” Als wäre der Geigerzähler ein Spielautomat, der den Jackpot verkündet, beginnt das Messgerät wie wild zu trillern. Die Strahlendosis Wiens wurde soeben um das 1.300-fache überschritten. 0,015 Millisievert pro Stunde – klingt nicht viel, ist es aber. Denn aufs Jahr gerechnet bedeutet das: Wien – 0,1 Millisievert; Moos in Pripyat – 131,4 Millisievert. Apropos Strahlendosis: Den 27. April genossen die Pripyater noch in vollen Zügen. Auch wenn es abgedroschen und furchtbar zynisch klingt: es herrschte strahlend schönes Wetter. Erst tags darauf kamen 1.500 Busse und brachten alle fort. Für immer. Das meiste blieb zurück. Diejenigen, die das nächtliche Feuer des um 1.23 Uhr explodierten Reaktors in aller Ruhe betrachteten, ebenfalls – sie wurden kurz darauf begraben.

Fünf Stunden in Tschernobyl

So, das wars, fünf Stunden Tschernobyl, die Tour ist zu Ende. 0,015 Millisievert hat jeder Teilnehmer abbekommen, etwa so viel wie auf einem Langstreckenflug. Im “Besucherzentrum” erhält Sascha verdienten Applaus. Irgendwie wollen alle nur noch raus aus diesem geisterhaften Moloch, zurück nach Kiew, zurück ins Leben. Dabei hat er gar nichts von den zigtausenden Kindern erzählt, die nicht nur in der Ukraine, sondern vor allem in Weißrussland, das die Hälfte der Sperrzone “geerbt” hat, verkrüppelt zur Welt kamen oder deren Zellen schon im Mutterleib dermaßen mutiert waren, dass Leben erst gar nicht entstehen durfte. Und dass die Menschen Anfang Mai 1986 zwar einen Regenguss über sich ergehen lassen mussten, der seltsam warm war, aber erst Jahre später erfuhren, warum. Das Leid und die unzähligen Tragödien, die sich bis heute wegen Tschernobyl ereignen, spart der Tagestrip aus. Übrigens: Er kostet rund 120 bis 150 US-Dollar. Gute Unterhaltung in Tschernobyl! (APA)

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