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Wirecard-Milliarden existieren wohl nicht

Markus Braun
Markus Braun ©APA
Der Bilanzskandal beim Zahlungsdienstleister Wirecard spitzt sich dramatisch zu.

Die verschwundenen 1,9 Milliarden Euro existierten mit "überwiegender Wahrscheinlichkeit" nicht, räumte der deutsche Konzern in der Nacht zum Montag ein.

Das Unternehmen aus Aschheim bei München, das bis vor wenigen Tagen mit Markus Braun einen Chef aus Österreich hatte, hat inzwischen Zweifel, ob das Geschäft mit Partnern in Asien, das seit Jahren für einen großen Teil der Gewinne von Wirecard steht, überhaupt existiert.

Man untersuche, "ob, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang dieses Geschäft tatsächlich zugunsten der Gesellschaft geführt wurde". Braun war erst am vergangenen Freitag zurückgetreten.

Fehler bei den Behören

Der Präsident der deutschen Finanzaufsicht BaFin, Felix Hufeld, sprach von einem Desaster und räumte Fehler der Behörde ein. "Es ist eine Schande, dass so etwas passiert ist", sagte er auf einer Bankenkonferenz in Frankfurt. Die Wirecard-Aktien brachen erneut massiv ein.

Zu den größten Gläubigerbanken gehören ABN Amro, Commerzbank, ING, LBBW, Barclays, Credit Agricole, DZ Bank, Lloyds, Bank of China, Citi und Deutsche Bank. Aber Wirecard hat laut Bloomberg auch Kredite bei der Raiffeisenlandesbank Niederösterreich-Wien (60 Mio. Euro) und der Raiffeisenlandesbank Oberösterreich (45 Mio. Euro).

"Ernstes Problem für Aktienkultur"

Private und öffentliche Institutionen, einschließlich seiner eigenen Behörde, hätten versagt, sagte Hufeld. "Wir sind nicht effektiv genug gewesen, einen solchen Fall zu verhindern", räumte er ein. "Ich nehme die öffentliche Kritik voll und ganz an." Die BaFin sei aber nur für die Aufsicht über die Tochter Wirecard Bank zuständig, nicht für die gesamte Wirecard AG, die für Händler und Kunden Zahlungen in Online-Shops und an Ladenkassen abwickelt. Allerdings hatte sie auf wiederholte Vorwürfe gegen das Unternehmen mit einem zeitweisen Verbot von Leerverkäufen reagiert, um Wirecard vor den Attacken zu schützen. Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing sprach von einem "ernsten Problem für die Aktienkultur" und die Grundsätze guter Unternehmensführung in Deutschland. "Es ist jetzt Zeit, schnell für Transparenz zu sorgen."

Gefälschte Dokumente

Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz (SPD) verteidigte die BaFin. Die Aufsichtsbehörden hätten ihren Job gemacht, das Ergebnis sei nun sichtbar, sagte er. Schon vor ein paar Wochen hatten Wirtschaftsprüfer von KPMG den Finger in die Wunde gelegt: Sie äußerten in einer vom Unternehmen selbst in Auftrag gegebenen Sonderprüfung Zweifel an den milliardenschweren Treuhandkonten, die das Geschäft von Wirecard in Asien absichern sollten. Dort hat das Unternehmen keine eigene Lizenz, sondern ist auf Dritte angewiesen, um die Transaktionen abzuwickeln. Die Prüfer von EY, die seit Jahren die Abschlüsse von Wirecard unter die Lupe nehmen, hatten am Donnerstag erklärt, Dokumente zu Geldern auf den Treuhandkonten seien offenbar gefälscht.

Geld nie angekommen

Das Geld ist nach Angaben der philippinischen Zentralbank nie im Land angekommen. Sie prüft nun ebenfalls, was passiert ist. Cezar Consing, der Vorstandschef der Bank BPI, bei der angeblich Konten geführt wurden, sagte Reuters, das Zertifikat sei eine plumpe Fälschung gewesen. Ein "sehr niedrigrangiger" Manager habe es unterzeichnet. Die BDO Unibank, die zweite genannte Bank, erklärte, einer ihrer Marketingmanager habe die Bescheinigung gefälscht. Die Münchner Staatsanwaltschaft prüft eine Ausweitung ihrer Ermittlungen, die bisher lediglich wegen Marktmanipulation geführt werden. "Wir prüfen alle in Betracht kommenden Straftaten", sagte eine Behördensprecherin. Wirecard selbst hatte sich als Opfer eines "gigantischen Betrugs" bezeichnet. Auf Betrug stehen in besonders schweren Fällen bis zu zehn Jahre Gefängnis.

Wirecard zog die Geschäftszahlen für das vergangene Jahr, für das erste Quartal 2020 und die Prognosen für heuer und die nächsten Jahre zurück. Auch die Zahlen aus den Vorjahren stimmten womöglich nicht. Es sei zumindest fraglich, wie verlässlich die Beziehung zu dem Treuhänder sei. Nach einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" handelt es sich um einen Rechtsanwalt, der als Abteilungsleiter im Verkehrsministerium der Philippinen vor zwei Jahren wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten entlassen worden sei. Um das Unternehmen zu retten, prüfe der neue Vorstandschef James Freis auch Kostensenkungen, den Verkauf und die Aufgabe von Geschäftsteilen und Produkten.

Geschäftsmodell steht in Frage

Die Ratingagentur Moody's zog ihre Einschätzung der Bonität von Wirecard zurück, weil die der Kreditwürdigkeit zugrunde liegenden Finanzdaten nicht mehr verlässlich seien. Am Freitag hatte Moody's das Rating bereits um sechs Stufen gesenkt. Die Wirecard-Aktie brach um ein Drittel auf 16,62 Euro ein. Das Unternehmen ist an der Börse noch 2,1 Milliarden Euro wert - ein Zehntel dessen, was noch Anfang September 2019 zu Buche stand. "Waren die angeblichen Forderungen reine Luftbuchungen, steht das gesamte Geschäftsmodell des Zahlungsdienstleisters in Frage und somit auch nahezu jeder Euro, den die Aktie noch wert ist", sagte Analyst Jochen Stanzl vom Online-Broker CMC Markets. Aus dem Leitindex Dax kann Wirecard allerdings frühestens im September genommen werden.

Das Unternehmen hängt nun am Tropf der Banken: Sie haben das Recht, Kredite über zwei Milliarden Euro bis Ende des Monats zu kündigen, weil der Zahlungsdienstleister keine testierte Bilanz vorlegen kann. Allerdings drohen ihnen selbst millionenschwere Abschreibungen, wenn sie tatsächlich die Reißleine ziehen. Wirecard stehe in "konstruktiven Gesprächen" mit den Banken über die Fortführung der Kreditlinien, teilte der Vorstand mit. Das Unternehmen hat die US-Investmentbank Houlihan Lokey engagiert, um die Finanzierung langfristig zu sichern. Sie gilt als Spezialist für besonders schwere Sanierungsfälle.

(APA/dpa)

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