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"Wegsperren der Menschen" beenden: Experte fordert neue Corona-Strategie

Gisinger befürwortet eine neue Coronastrategie für Österreich.
Gisinger befürwortet eine neue Coronastrategie für Österreich. ©APA/HERBERT P. OCZERET
Um in Österreich wieder zu einem normalen Alltag zurückzufinden, müsse die heimische Politik das "Wegsperren der Menschen" beenden. Stattdessen brauche es eine Effektivierung der Testungen, so Geriatrie-Experte Christoph Gisinger.

Der Leiter des Hauses der Barmherzigkeit, Christoph Gisinger, fordert einen Schwenk in Österreichs Corona-Strategie.

Um zu einem normalen Alltag zurückkehren zu können, müsse von der "Politik des Wegsperrens" abgegangen werden, sagte er im APA-Interview. Stattdessen brauche es verlässliche, rasche Tests und eine schnelle Rückverfolgung der Infektionsketten.

Unterschiede bei schwedischer und österreichischer Altenpflege

Anlass für das Gespräch waren Berichte der vergangenen Wochen über Missstände in schwedischen Altersheimen. Diese werden vielfach für die vergleichsweise hoch erscheinende Corona-Todesrate in Schweden verantwortlich gemacht, die zum überwiegenden Großteil über 70-jährige, meist bereits in Pflege befindliche Menschen betrifft. Die APA befragte Gisinger zu den Unterschieden in der schwedischen und in der österreichischen Altenpflege.

Es handle sich zum zwei Extreme, sagt Gisinger, der sich vor einigen Jahren an Ort und Stelle selbst ein Bild über das schwedische Geriatriesystem gemacht hat. In Österreich gehe es in der Pflege "extrem bürokratisch" zu. Die Schweden hingegen seien sehr praxisorientiert. In Schweden herrsche eine tief verwurzelte Vertrauenskultur. Oft trage eine einzige Person die Verantwortung für wichtige Entscheidungen. Dies sei einerseits gut und führe zu mehr Flexibilität. Andererseits berge es auch eine höhere Gefahr für Fehler.

Ländervergleich soll Klarheit bringen

Ob dies der Grund für die kolportierten Mängel im schwedischen System sein könnte - so war beispielsweise von Wasser statt Desinfektionsmittel in einer Institution berichtet worden, oder von mangelnden Hygieneroutinen beim Pflegepersonal - darüber will Gisinger nicht spekulieren: "Man muss mit Schlussfolgerungen sehr vorsichtig sein." So seien etwa die Zählweisen, wann es sich bei einem Toten um einen Covid-19-Toten handelt, von Land zu Land oft nicht vergleichbar.

Klarheit könne nur ein breit angelegter und fundierter Ländervergleich in Form einer Studie bringen, meint Gisinger. Von einer solchen sei ihm derzeit nichts bekannt. Mit Ergebnissen wäre außerdem sowieso erst in ein paar Jahren zu rechnen.

"Schweden in Forschung viel aktiver als wir"

Die in Schweden oft geäußerte Vermutung, die hohen Covid-19-Todeszahlen könnten mit den vor zwei Jahrzehnten vorgenommenen Privatisierungen im Pflegebereich zusammenhängen, möchte er ebenfalls nicht beurteilen: "Ich weiß nicht, ob das faktenbasiert ist. Natürlich müssen private Institutionen Renditen erwirtschaften. So gesehen ist es nicht weit hergeholt, dass man auf eine solche Idee kommt." Gisinger betont aber, dass es neben schwarzen Schafen auch im privaten Pflegebereich viele Institutionen gebe, die hervorragende Arbeit leisten.

Als Wissenschafter bewundert Gisinger das hohe akademische Renommee der schwedischen Medizin und Pflege: "Die Schweden sind in der Forschung viel aktiver als wir und in der Scientific Community sehr anerkannt." Dies stehe ein bisschen im Widerspruch zur tatsächlichen Praxis in dem skandinavischen Land. Österreich ist aus seiner Sicht etwa bei den räumlichen Strukturen im Pflegebereich besser aufgestellt: "In Österreich wurde in den vergangenen 10-20 Jahren baulich viel investiert". Insgesamt wünscht sich Gisinger ein Pflegesystem, das die positiven Aspekte beider Länder vereinigt.

Heimische Politik soll "Wegsperren der Menschen" beenden

Was die gegenwärtige Situation mit Corona in Österreich anbetrifft, hat er einen klaren Auftrag an die Politik: "Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Weg vom Mauern und hin zum Wettrennen" mit dem Virus. Derzeit sei die österreichische Politik auf Wegsperren der Menschen zu ihrem Schutz ausgerichtet. So könne man aber nicht zu einem normalen Leben zurückkehren. Dies könnte nur durch eine Effektivierung der Testungen erreicht werden.

"Derzeit haben wir eine Fehlerquote bei Tests von bis zu 30 Prozent. Die Analyse bis zum Vorliegen des Ergebnisses dauert oft Tage. Das Ziel wäre, verlässliche Ergebnisse nach zwei Stunden zu haben und nach drei Stunden mit dem Contact-Tracing (dem Nachverfolgen der Infektionskette, Anm.) bereits begonnen zu haben." Diese optimalen Vorgaben seien kurzfristig allerdings nicht erreichbar, ist sich Gisinger im Klaren.

Corona-Zahlen und Todesfälle in Schweden sinken

In Schweden sinken unterdessen die einschlägigen Corona-Zahlen weiter, vor allem jene der neuen Todesfälle. Schwedens "Staatsepidemologe" Anders Tegnell sagte am Freitag, der rückläufige Trend sei seit mehreren Wochen konstant. Um die Situation weiter zu verbessern, plane man ausgeweitete Tests und eine verstärkte Verfolgung der Ansteckungsketten in den schwedischen Altenheimen. Damit erscheint Tegnells Taktik durchaus nicht unähnlich Gisingers Forderungen.

(Das Gespräch führte Andreas Stangl/APA)

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