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Vorarlbergs Straßenkinder

Die Straße war das Zuhause von Tom. Für viele Straßenkids ist sie das noch heute – auch in Vorarlberg.
Die Straße war das Zuhause von Tom. Für viele Straßenkids ist sie das noch heute – auch in Vorarlberg. ©Sams
Ländle-Rapper Jay Haze erzählte W&W von seiner Zeit auf der Straße. Auch Tom war als Teenie obdachlos. Die Szene ist größer, als vielen bekannt ist.

Von: Anja Förtsch (WANN & WO)

„Unser Zuhause war die Straße, unser Kleiderschrank waren Mülltüten hinter den Bahngleisen und unser Schlafzimmer Bank-Vorräume.“ Was Tom (Name geändert) von seinem früheren Leben als Obdachloser erzählt, klingt hart – und umso härter, wenn man weiß, dass er damals noch fast ein Kind war. Denn der heute 26-Jährige war damals gerade einmal 16 Jahre alt. Ein minderjähriger Obdachloser, wie es sie in Vorarlberg häufiger gibt, als es die meisten wohl wissen.

Halt auf der Straße

Heute führt Tom ein normales Leben. Mit Familie, mit Job, mit fester Wohnung. Aber der Weg dahin war alles andere als geradlinig. „Ich kam schon als kleines Kind zu Pflegeeltern. Später war ich auf dem Jagdberg, aber irgendwann bin ich auch dort rausgeflogen.“ Zurück in die eigene Familie? Damals keine Option für ihn. Stattdessen: die Straße. „Am Anfang habe ich mich allein durchgekämpft, aber relativ schnell habe ich dort einen Freund gefunden. Wir haben uns gegenseitig Sicherheit und Unterstützung gegeben, die wir ja sonst nicht hatten und auch davor nie erlebten“, erinnert er sich im Gespräch mit WANN & WO. Immer mehr minderjährige Obdachlose fanden zusammen. „Zeitweise waren wir mehr als zehn Leute, teilweise bis zu 20“, schildert der Dornbirner. „Genau kann man das nicht sagen. Das ist keine feste Gruppe, die Leute kamen und gingen. Manche zogen wieder bei ihren Eltern ein. Und von denen kamen manche nach ein paar Wochen wieder.“ Dafür nahmen sie einiges in Kauf, denn das Leben auf der Straße ist kein Spaziergang. „Geschlafen haben wir zum Beispiel in Bankvorräumen, auf Spielplätzen oder an der Ach. Manchmal haben wir uns in den letzten Zug nach Bludenz gesetzt, dort war es warm und trocken. Wenn der Zug dann hielt, versteckten wir uns, damit wir im Zug schlafen konnten. Am nächsten Morgen sind wir zurück nach Dornbirn gefahren“, erzählt Tom. „Essen haben wir meist gestohlen. Oder von dem Geld gekauft, das wir vom Verkauf gestohlener Sachen bekommen haben.“ Überhaupt: Diebstahl war der zentrale Punkt im Leben der obdachlosen Teenies.

Bloß kein normales Leben

„Meist haben wir Klamotten oder Technik geklaut, das brachte das meiste Geld. Abnehmer zu finden, war kein Problem – man lernt die Leute dafür einfach kennen.“ Auch wenn es ihm rückblickend für alle Menschen leid tut, denen sie geschadet haben: Schlecht lebten die Jungs davon nicht, sagt Tom. „Wenn du so 2000, 3000 Euro in der Woche machst, dir praktisch kaufen kannst, was du willst und nicht einmal viel Stress hast, dann überlegst du natürlich nicht, ob du lieber zurück ins normale Leben und eine Lehre machen sollst, bei der du nur einen Bruchteil verdienst und 40 Stunden die Woche buckeln musst.“ Wobei, ganz stressfrei war dieses Einkommen freilich nicht. Denn immer öfter trudelte Post von der Polizei ein. Beim Obdachlosenheim übrigens. „Geschlafen haben wir da nur einmal. Das Elend der Menschen dort zu sehen, hat uns fertig gemacht und wir haben uns sofort gedacht: Einmal und nie wieder.“ Aber die Jungs nutzten das Heim als Zweitadresse, an die sie ihre Post bekommen – meist eben Vorladungen vom Gericht. „Ich hatte teilweise bis zu drei Verhandlungen in der Woche. Bei denen bekam ich aber nur Geldstrafen. Das hat mich null interessiert und ich habe weitergemacht wie bisher.“ Erst bei der letzten wird es ernst: Gleich zwölf Jugendliche stehen vor dem Richter. Der sieht in der Bande mafiöse Strukturen – und Tom bekommt diesmal keine Geld-, sondern eine Haftstrafe. Der Tiefpunkt, der ihn sein Leben mit Hilfe seines Bewährungshelfers umkrempeln lässt. „Heute ist das alles Geschichte, das ist gar nicht mehr in meinem Kopf“, beschreibt er. „Trotzdem, auch wenn es komisch klingt: Ich will diese Zeit nicht missen. Denn ich wäre heute nicht dort, wo ich bin, hätte es sie nicht gegeben.“ Zu seinem engsten Freund von damals, der den Weg zurück ebenfalls geschafft hat, hat er hin und wieder noch Kontakt. „Und manchmal sehe ich an unseren alten Plätzen noch immer Straßenkids.“

(WANN & WO)

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