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"Verzweifelte Jahre. Mein Leben ohne Natascha"

©APA
Im März 1998 wurde Natascha Kampusch auf dem Schulweg entführt. Achteinhalb Jahre lebte ihre Mutter Brigitta Sirny-Kampusch mit der Angst, ihre Tochter nie mehr wieder zu sehen.   

Knapp ein Jahr nach der Flucht der jungen Frau vor ihrem Entführer hat die 57-jährige Wienerin ihre Erlebnisse der vergangenen neun Jahre niedergeschrieben. In dem Buch „Verzweifelte Jahre. Mein Leben ohne Natascha“ hat sie ihre Erfahrungen aufgearbeitet. Im Gespräch mit der APA erinnerte sich Brigitta Sirny-Kampusch an die Rückkehr ihrer Tochter und die Schwierigkeiten der Vergangenheit.

APA: Frau Sirny, Sie berichten in Ihrem Buch über die „verzweifelten Jahre“, in denen Ihre Tochter Natascha Kampusch verschwunden war. Wie geht es Ihnen und Ihrer Tochter heute, knapp ein Jahr nach der Flucht?

Sirny-Kampusch: Ja, es wird. Ich kann sagen: Gut kann es ihr noch nicht gehen. Aber es wird von Tag zu Tag besser. Mir geht es eigentlich jetzt auch gut. Ich hab’ das Buch fertig, und das war auch die Begründung, warum ich das Buch gemacht habe: Zur Aufarbeitung, damit ich das ganze Trauma – sage ich jetzt einmal – verarbeite.

APA: Was hat sich in dem vergangenen Jahr, seit der Flucht, in Ihrem Leben verändert?

Sirny-Kampusch: Es hat sich eigentlich wieder alles verändert. Es war genauso wie am 2. März 1998, als sie (Natascha Kampusch, Anm.) verschwunden ist. Da ist das Leben auch total verändert worden. Ich habe zu arbeiten aufgehört. Jetzt habe ich mich schon wieder gefasst und ich arbeite weiter, natürlich. Ja, aber es ist positiv. Aber unmittelbar nachher war es natürlich negativ.

APA: Sie berichten in Ihrem Buch von der menschlichen Mauer, die zwischen Ihnen und Natascha kurz nach ihrer Flucht gebildet wurde. Wie ist das Verhältnis heute?

Sirny-Kampusch: Ja, es sind schon einige weggefallen vom Betreuerstab. Aber es war eine Katastrophe. Es war wie eine zweite Entführung. Ich konnte nicht zu Natascha, eine ganze Woche lang. Ich wurde immer wieder vertröstet: Ich muss einsehen und ich muss Geduld haben. Ich habe dann zu Dr. Friedrich (Kinderpsychiater Max Friedrich, Anm.) gesagt: Entschuldige, ich habe acht Jahre lang Geduld gehabt, und jetzt auf einmal lässt man mich nicht zu meinem Kind.

APA: Hat sich der Kontakt inzwischen verbessert, können Sie Ihre Tochter uneingeschränkt sehen?

Sirny-Kampusch: Ja, wir treffen uns regelmäßig, jede Woche sehen wir uns. Sie ist bei mir, und wir machen auch sehr viel gemeinsam.

APA: Wie ist der Umgang mit der Öffentlichkeit, können Sie sich uneingeschränkt bewegen?

Sirny-Kampusch: Wenn einen jemand zufällig erkennt, dann wird man angesprochen oder belächelt oder gegrüßt. Irgendwelche Leute haben einige Fragen. Wir beantworten sie ganz souverän und gehen dann unserem Einkauf oder sonstigem nach.

APA: Sind diese Situationen schlimm für Sie?

Sirny-Kampusch: Für mich überhaupt nicht. Ich habe das in den achteinhalb Jahren viel ärger empfunden, weil ich nicht gewusst habe: Wie sehen mich die Leute an? Da kam es auf meine Tagesverfassung an. Wenn ich ganz unten war und depressiv, bin ich den Leuten eigentlich aus dem Weg gegangen und habe gar keine Antwort gegeben. Das ist heute weg.

APA: Wie normal können Sie und Ihre Familie heute, neun Jahre nach der Entführung bzw. ein Jahr nach dem Wiederauftauchen ihrer Tochter, leben?

Sirny-Kampusch: Wir haben uns beide kennenlernen müssen. Wir sind eigentlich – sie (Natascha Kampusch, Anm.) genauso wie ich – vorsichtig aufeinander zugegangen. Wir haben ja nicht gewusst, was in den achteinhalb Jahren passiert ist, sowohl auf meiner Seite, als auch auf ihrer Seite. Es wird immer besser.

APA: Wie kann man sich das Familienleben heute im Hause Kampusch vorstellen? Gibt es gemeinsame Sommerurlaube, Feiern, Geburtstage?

Sirny-Kampusch: Es ist für mich eine Freude, wenn ich meine drei Töchter sehe, wie sie sich innig miteinander unterhalten. Und da denke ich mir: Da ist eigentlich nie was passiert. Und das ist so schön für mich. Wie wenn nie etwas passiert wäre. Die Feste sind wieder da: Wir feiern wieder Weihnachten. Das war immer ein Thema, dass bei mir gefeiert wurde. Das ist achteinhalb Jahre nicht passiert. Ich bin immer zu den großen Schwestern von Natascha gegangen. Jetzt haben wir wieder etwas Gemeinsames – da ist die ganze Familie zusammen. Wir haben Weihnachten gefeiert und Geburtstage. Wir sind zusammengeschweißt auch in den vergangen achteinhalb Jahren. Wir feiern halt wieder mit der Natascha. Und ich habe eine Riesenfreude, wenn ich sehe: ’Wir sind alle wieder zusammen’.


Trauma: Verarbeiten, Versäumtes nachholen, neues Leben beginnen

Vor einem Jahr entkam Natascha Kampusch aus dem “Gefängnis”. Die Jugend-Psycho-Traumatologie kennt für den psychischen Heilungsprozess nach einer solchen seelischen Verletzung keine generellen Regeln.Doch am Ende einer längeren Entwicklung kann eine – wenn auch nicht narbenlose – Heilung stehen. Dies sagte der Wiener Psychiater Stephan Rudas – ohne auf den Einzelfall direkt einzugehen – in einem Gespräch mit der APA.

„So etwas ist ein schweres Trauma, ein lang einwirkendes Trauma – und das in einem sehr verletzbaren Lebensabschnitt“, erklärte der Experte auf die Frage, was an Bewältigungsmöglichkeiten innerhalb eines Jahres existieren würde. Eine generelle Regel, was die menschliche Psyche innerhalb eines bestimmten Zeitraumes verarbeiten könne, gebe es jedenfalls nicht.

Die Situation des Betroffenen hängt laut Rudas von drei Faktoren ab: „Wie bei jeder Wundheilung geht es um die Frage, ’welche Wunde und wie tief?’. Was konnte in wichtigen Phasen der Entwicklung (als Kind und Jugendlicher, Anm.) nicht erfolgen, was konnte erfolgen? Und schließlich: Was war an Hilfe nach dieser Verwundung möglich?“

Die Konsequenz daraus ist sozusagen das Arbeiten auf drei verschiedenen Schienen. Der Chefarzt des Psychosozialen Dienstes Wiens: „Es geht erstens um die Verarbeitung, was geschehen ist. Es geht darum, nachzuholen, was versäumt worden ist. Und es geht darum, ein neues Leben zu beginnen.“

Die Aufgabe der Betreuer des Betroffenen sei es, jeweils herauszufinden, wo zu unterschiedlichen Zeiten die Prioritäten in diesen Aufgaben liegen sollten. Rudas: „Da gibt es keine allgemeine Regel.“

Optimismus in Sachen Verarbeitungskapazität der menschlichen Psyche auch nach schwersten Verletzungen ist angesagt. Der Experte: „Die historische Literatur sagt: Es können auch allerschwerste Wunden gut heilen. Es geht nicht um eine narbenlose Heilung. Es geht nicht darum, das Erlebte ungeschehen zu machen, sondern in einem wieder möglichst normalen Alltag als Teil der Persönlichkeit zu integrieren. Und dabei geht es nicht um Eile, es geht um Entwicklung.“

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