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Amnesty sieht in Traiskirchen fast alle Menschenrechtskonventionen verletzt

Mitarbeiter von Amnesty International beim Verlassen Traiskirchens. Ihr Urteil: vernichtend.
Mitarbeiter von Amnesty International beim Verlassen Traiskirchens. Ihr Urteil: vernichtend. ©APA
Völlig überbelegt, unzureichende medizinische und soziale Versorgung, "fürchterliche" hygenische Zustände, unfreiwillige "Peep-Shows", kein ausreichender Schutz für Minderjährige, Babys, Schwangere oder Kranke: "Unsagbar zornig" zeigt sich der Generalsekretär von Amnesty International, Heinz Patzelt, über die Zustände in Traiskirchen. Die Menschenrechtsorganisation hat am Freitag ihren Bericht über die Prüfung des Erstaufnahmezentrums vorgestellt. Und spricht von teils unmenschlicher Behandlung und einem "selbst verschuldeten Systemversagen". Das Urteil: vernichtend.
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Traiskirchen als Symptom systematischer Mängel in Österreichs Umgang mit Asylwerbern: Amnesty International zieht nach dem Besuch des Erstaufnahmezentrums Bilanz. Und die wirft, selbst für das Innenministerium wenig überraschend, kein gutes Licht auf Österreich und die Bundesregierung. Die Research-Mission stellte “ernsthafte Verletzungen von bindenden Standards in der Bundesbetreuungsstelle” fest. Patzelt beschreibt die Situation als “strukturelles Versagen” – und zeigte sich auf der Pressekonferenz “unsagbar zornig”. Österreich verletzte im Grunde fast alle Menschenrechtskonventionen. Einzig die Antifolterkonvention und jene gegen die Todesstrafe würden nicht verletzt.

Besonders prekär sei die Situation für Kinder und Jugendliche, die ohne elterliche Begleitung nach Österreich gekommen sind. Für sie gebe es keine adäquate Betreuung. Noch immer seien viele von ihnen obdachlos.

“Das Versagen in der Flüchtlingsversorgung wäre leicht vermeidbar”

“Österreich ist weder in einer finanziellen Misere noch in er ressourcenknappen Situation: Das Versagen in der Flüchtlingsversorgung wäre leicht vermeidbar, die Ursachen sind vor allem administrative Fehler”, kritisiert Amnesty. Dabei lasse sich ein System, das die Menschenrechte von Asylwerbern schützt und respektiert ohne wesentlichen Kostenaufwand verwirklichen, zeigt sich Patzelt überzeugt. So sei es etwa “völlig unnötig und beschämend, beispielsweise einen zwölfjährigen Bub getrennt von seinem Vater unterzubringen – mit dem Ergebnis, dass beide lieber im Freien schlafen, als getrennt zu sein”.

»“Traiskirchen ist das zentrale Symptom für ein weitreichendes strukturelles Versagen des föderalen Österreich im Umgang mit Asylwerbern.” (Heinz Patzelt, Generalsekretär AI Österreich)«

Vertreter von Amnesty hatten das Erstaufnahmezentrum am 6. August besucht und konnten sich nach einer Führung durch die Lagerleitung und Beamte des Innenministeriums am Gelände einige Stunden frei bewegen. Im Rahmen der Research-Mission wurde mit 30 Asylwerbern gesprochen, erklärte Teamleiterin Daniela Pichler bei der Pressekonferenz. Diese Gespräche wurden mit Audio und Foto dokumentiert. Gesprochen wurde auch mit Vertretern des Unternehmens ORS sowie der Leitung des Frauenhauses im Zentrum. Jede Bedingung für den Besuch wurde eingehalten, zeigte sich Patzelt zumindest diesbezüglich erfreut.

Patzelt: “Ich habe so etwas in Österreich nicht für möglich gehalten”

Nicht jedoch was die Zustände im überfüllten Lager betrifft: “Das Versagen anderer Staaten kann niemals eine Rechtfertigung sein für das, was sie vorgefunden haben”, so Patzelt über die Überprüfung und später: “Ich habe so etwas in Österreich nicht für möglich gehalten.” Pichler schilderte zunächst ihre persönlichen Eindrücke und zeigte sich betroffen darüber, wie die Asylwerber in der “enormen Hitze” im Schatten Zuflucht suchen. Auch habe auf dem Gelände eine “dominante Stille” geherrscht. Am meisten habe sie überrascht, dass nur vereinzelt Flüchtlinge auf die AI-Vertreter zugekommen seien, um ihre Geschichte zu erzählen.

Fehlende Unterkünfte, stundenlanges Warten in brütender Hitze

Die Erkenntnisse aus dem Besuch wurden in einem Bericht zusammengefasst, der die Bereiche Unterkunft, Verpflegung, Sanitäranlagen, Medizin und die spezielle Situation unbegleiteter, minderjähriger Flüchtlinge behandelt. “Es gibt keine angemessene Unterkunft für die Flüchtlinge”, 1.500 Menschen mussten zum Zeitpunkt der Prüfung im Freien schlafen, so Pichler. Auch vor dem Zentrum, in Parks oder auf dem Bahnhof nächtigen die Asylwerber. Zwar seien es seit dem Aufnahmestopp etwas weniger, die bereits beim Besuch angekündigten Busse seien aber kein Ersatz: Sie kommen einer “unmenschlichen Behandlung gleich”.

»“Als wir vor Ort waren, mussten rund 1500 Menschen in Traiskirchen im Freien schlafen, dazu kommen noch jene, die außerhalb des Geländes übernachten. Ein unhaltbarer Zustand.” (Daniela Pichler, Leiterin AI-Research-Team Traiskirchen)«
NIEDER…STERREICH: ASYL - BUNDESBETREUUNGSSTELLE TRAISKIRCHEN
NIEDER…STERREICH: ASYL - BUNDESBETREUUNGSSTELLE TRAISKIRCHEN

Vielfach müssten sich die Asylwerber – darunter auch Schwangere und Frauen mit Babys – stundenlang bei sengender Hitze um ihre Identitätskarten anstellen, berichtet sie weiter und meint: “Ein einfaches Wartenummernsystem wäre schon eine deutliche Verbesserung”.

ASYL - AUFNAHMESTOPP IN TRAISKIRCHEN IN KRAFT GETRETEN
ASYL - AUFNAHMESTOPP IN TRAISKIRCHEN IN KRAFT GETRETEN

Situation für Minderjährige besonders prekär

Eine besonders prekäre Situation stelle jene der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge dar. “Sie sind derzeit nicht ausreichend geschützt in Traiskirchen, sondern de facto vollkommen sich selbst überlassen”, kritisierte Pichler und ortet eine Verletzung der UN-Kinderrechtskonvention. Auch für eine weitere besonders schutzbedürftige Gruppe – die Frauen – bestehe kein ausreichender Schutz in Traiskirchen. So gebe es etwa unter den Obdachlosen Schwangere oder Frauen mit neugeborenen Kindern. Die Duschen in den Sanitäranlagen müssen gemischt genutzt werden, es gebe nur Nischen ohne Vorhänge.

Vier Ärzte und drei Psychologen für tausende Flüchtlinge

“Elend” und die ungeschützt der Hitze ausgelieferten Menschen, das waren auch die Eindrücke des medizinischen Experten Siroos Mirzaei. Für die tausenden Flüchtlinge, teils mit traumatischen Kriegserfahrungen, stehen insgesamt nur vier Ärzte und drei Psychologen zur Verfügung. Den Ärzten bleiben nur wenige Stunden pro Tag für die Behandlung kranker Flüchtlinge, denn die meiste Zeit werde für die Erstuntersuchung aufgewendet. Manche würden sich auch nicht in die Ordination trauen, da sie befürchten, aufgrund einer Krankheit nicht in Privatunterkünfte zu kommen, stellte Mirzaei fest. Die psychologische Betreuung sei “völlig unzureichend”, so der Experte weiter.

“Teilweise schwammen noch Exkremente herum”

Mirzaei kritisierte vor allem auch die radiologische Untersuchung zur Altersfeststellung, denn diese sei “unzuverlässig” und sehr teuer. Das hierfür aufgewendete Geld wäre besser in der Betreuung aufgehoben, meinte er. “Die medizinische Versorgung in Traiskirchen ist derzeit mangelhaft.”

In einem “fürchterlichen hygenischen Zustand” fand das Research-Team auch die Duschen und Toilettenanlagen vor. “Teilweise schammen noch Exkremente herum”, auch war der Boden in der Toilette nass, so Mirzaei. Auch er sah aufgrund der gemeinsamen Duschen die Menschenwürde von Frauen verletzt: “Die Probleme wären leicht zu lösen.”

Patzelt: “Ich bin unsagbar zornig”

Generalsekretär Patzelt erklärte, AI Österreich erstattet der Zentrale in London laufend Bericht. Diese reagierte dann auch irritiert über die Information zur “Massenobdachlosigkeit” und glaubte an eine Fehlermeldung. Überprüfungen von Flüchtlingslagern seien in vielen anderen Ländern “Routine”, in Mitteleuropa jedoch die Ausnahme. “Ich bin unsagbar zornig”, so Patzelt, denn der Staat versage bei der Versorgung von Kriegsflüchtlingen und verletzte etwa die UN-Kinderrechtskonvention oder die Frauenkonvention. Einzig die Antifolterkonvention und jene gegen die Todesstrafe würden nicht verletzt.

AUSTRIA AMNESTY INTERNATIONAL
AUSTRIA AMNESTY INTERNATIONAL ©AI-Generalsekretär Heinz Patzelt, Daniela Pichler, Leiterin des Research-Teams Traiskirchen und der medizinische Experte Siroos Mirzaei bei der Präsentation des Amnesty-Prüfungs-Berichts des Erstaufnahmezentrums Traiskirchens am Freitag. Foto: APA

AI: Regierung und Länder müssen Verantwortung übernehmen

Amnesty International, respektive dessen Generalsekretär Patzelt, appellierte an die Bundesregierung und die Landeshauptmänner, ihre Verantwortung bei der Unterbringung von Asylwerbern wahrzunehmen. Sollte der heute vorgestellte Bericht keine Wirkung auf die Unterbringung und Betreuung in Traiskirchen zeigen, will AI das völlig überfüllte Flüchtlingslager “sehr bald” wieder prüfen, kündigte Patzelt an.

Vom selbst verursachten “Pseudonotstand” und “unfreiwilligen Peep-Shows”

Die Hauptverantwortung für die Situation tragen die Bundesregierung und die Landeshauptleute, sie kommen ihrer menschenrechtlichen Verantwortung nicht nach, so Patzelt. Das “Quoten-Ping-Pong” etwa sei “unerträglich. Flüchtlingsunterbringung sei “kein Gnadenakt”, es handle sich weiters um eine “Management-Aufgabe, die zu lösen ist, wenn man will”. Der “Pseudonotstand” sei selbst verursacht, meinte der Generalsekretär. Auch er pochte auf rasche, einfache Lösungen etwa bei den Sanitäranlagen gegen die “unfreiwillige Peep-Show”.

AI informierte nach der Überprüfung auch das Innenministerium über die Erkenntnisse, es habe ein “sachliches, offenes Gespräch” gegeben, so Patzelt. Er unterstützt die Forderung der Bundesregierung nach verbindlichen Quoten auf EU-Ebene, denn anderenfalls verdiene die EU keinerlei menschenrechtliche Anerkennung, so der Generalsekretär.

»“Österreich ist weder in einer finanziellen Misere noch in einer ressourcenknappen Situation: Das Versagen in der Flüchtlingsversorgung wäre leicht vermeidbar.” (Heinz Patzelt)«

Was Amnesty International fordert

Gefordert wird das bereits angekündigte Durchgriffsrecht des Bundes bei der Schaffung von Quartieren. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sollen umgehend einen gesetzlichen Vormund erhalten und Familien bei der Unterbringung nicht getrennt werden. AI verwies auch auf das Angebot von Hilfsorganisationen, Ärzte in das Zentrum zu entsenden – dieses sei bis jetzt jedoch nicht angenommen worden. Eine einfache Lösung wäre auch bei der Trinkwasserversorgung möglich. Da es in vielen Ländern nicht üblich ist, dieses aus der Wasserleitung zu konsumieren, sollte es in Glasflaschen abgefüllt werden, so Patzelt: Man erwarte “kein teures Evian”. Erfreut sind die Asylwerber über jene Personen, die privat Hilfsgüter zum Zentrum bringen, so Pichler.

amne
amne ©Zelte für Flüchtlinge werden am Mittwoch 12. August, von Polizeischülern auf dem Gelände der polizeilichen Sicherheitsakademie in Traiskirchen errichtet. Die Zelte sollen die Busse für die Flüchtlinge ersetzen. Im Bild: Flüchtlinge neben den Bussen. Foto: APA

Innenministerium über AI-Bericht nicht überrascht

Von den Erkenntnissen und der Kritik Amnestys nicht überrascht hat sich am Freitag das Innenministerium gezeigt. Die Situation sei durch die “sprunghaft angestiegene Zahl an Asylsuchenden” entstanden, hieß es in einer Stellungnahme. Die Situation sei “prekär, es handelt sich um eine Ausnahmesituation”, dies habe das Ministerium bereits vor Wochen festgestellt. Im aktuellen Versorgungsmodell sei die Verantwortung zwischen Bund und Ländern aufgeteilt, es gebe Länderquoten und Gemeindekompetenzen, mit denen aber die Aufnahme von Flüchtlingen verhindert werden kann. Die Bundesländer erfüllen ihre Quoten nicht und der Bund könne inzwischen den Mehrbedarf nicht mehr abdecken, hieß es weiters. Die bereits angekündigte neue Verfassungsbestimmung über ein Durchgriffsrecht bei der Schaffung von Quartieren soll dies nun ändern.

“Was wir jetzt nicht brauchen, sind Polarisierungen und ein Wettbewerb in der Beschreibung von Missständen”, erklärte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP), denn es sei jedem klar, dass die Situation nicht tragbar sei. Seit dem AI-Besuch seien bereits Verbesserungen vorgenommen worden, betonte die Ressortchefin. Eine nachhaltige Lösung sei aber nur auf europäischer Ebene möglich. Als Akut-Maßnahme brauche es die Unterstützung des Bundesheeres sowie der NGO, der Länder und Gemeinden. Die Gespräche mit AI seien jedenfalls konstruktiv gewesen und werden fortgesetzt. Das Ministerium werde den “möglichsten Beitrag” zu einer Problemlösung leisten, versicherte Mikl-Leitner.

Babler: “Symbol für zutiefst verabscheuungswürdige Flüchtlingspolitik”

Amnesty International (AI) zeige auf, wie in Traiskirchen, “ein Symbol für eine unmenschliche und zutiefst verabscheuungswürdige Flüchtlingspolitik seitens der Verantwortlichen produziert wird”, so Traiskirchens Bürgermeister Andreas Babler (SPÖ) in einer ersten Reaktion auf den Bericht. Nach so einem vernichtenden Bericht einer internationalen Menschenrechtsorganisation dürfe man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Die Worte von AI-Generalsekretär Heinz Patzelt müssten auch zu politischen Konsequenzen führen, forderte Babler. Hauptadresse für den Skandal sei die Herrengasse in Wien, meinte er einmal mehr das Innenministerium.

Organisationen und NEOS sehen sich bestätigt

Von den Erkenntnissen der Menschenrechtsorganisation bestätigt sahen sich am Freitag auch Hilfsorganisationen und Oppositionsvertreter. Traiskirchen sei ein “Multi-Organversagen” der Republik, stellte etwa die Volkshilfe in einer Aussendung fest. Die NEOS forderten ein professionelles Management durch einen Regierungskommissär.

“Der Bericht von Amnesty International ist mehr als deutlich und bestätigt damit die Bilder, die seit Wochen in den Medien kursieren”, stellte NEOS-Menschenrechtssprecher Nikolaus Scherak fest. “Worauf wartet die Bundesregierung noch?”, drängt er etwa auf die angekündigte Nationalratssondersitzung. Die Regierung sei mit dem Flüchtlingsthema “komplett überfordert”, pocht er auf die Einsetzung eines Regierungskommissärs.

Die Caritas appellierte an die Bürgermeister und Bundesländer, Hilfe zu leisten. Präsident Michael Landau besuchte das Erstaufnahmezentrum selbst und berichtete von Kindern, die ihre Habseligkeiten in Müllsäcken bei sich tragen und Menschen, die unter Bäumen schliefen. Er sieht die gesamte Gesellschaft gefordert, um die Situation zu entlasten und Quartiere zu schaffen. “Auch die Öffnung leerstehender Kasernen muss endlich in Angriff genommen werden”, forderte Landau.

Volkshilfe ortet “Multi-Organversagen”

Der Bericht von AI fiel für Volkshilfe-Bundesgeschäftsführer Erich Fenninger “erwartbar vernichtend” aus und sei “beschämend” für Österreich. Grundsätzlich stellen die “menschenrechtlich unhaltbaren Zustände” ein “Multi-Organversagen” der politisch Verantwortlichen dar. Auch stellten die Zustände in Traiskirchen den Föderalismus infrage. Langfristig brauche es ein eigenes Ministerium für Migration und Integration, forderte Fenninger.

Der Samariterbund sah durch den Bericht seine “schlimmsten Befürchtungen” bestätigt. Präsident Franz Schnabl forderte daher eine noch stärkere Einbindung der Hilfsorganisationen bei der Betreuung der Flüchtlinge, besonders der unbegleiteten Minderjährigen. (red/APA)

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