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Türken verlieren Lust an Europa

Gut drei Monate vor den geplanten EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei macht sich in Ankara der große Frust breit. Statt einer Aufbruchstimmung bestimmt Misstrauen das Bild.

Fast täglich berichten die Zeitungen über Äußerungen europäischer Politiker, die einen Stopp der Erweiterung oder eine Absage an eine türkische EU-Mitgliedschaft fordern. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan leistet sich unterdessen einen öffentlichen Streit mit den EU-Botschaftern in seiner Hauptstadt. Einer aktuellen Umfrage zufolge glauben immer mehr Türken, dass ihr Land niemals in die EU aufgenommen werden wird.

Konkret bezogen sich die türkischen Befürchtungen in den vergangenen Wochen auf den Verhandlungsrahmen für die EU-Beitrittsgespräche, der an diesem Mittwoch vorgestellt werden und der als Basis für die Beitrittsverhandlungen dienen soll. Laut Zeitungsberichten wollen einige EU-Länder im Verhandlungsrahmen sehr deutlich machen, dass die Beitrittsgespräche nicht unbedingt mit der Aufnahme der Türkei enden werden. Hinter verschlossenen Türen soll die türkische Regierung bereits gegen diese Bestrebungen protestiert haben. Peter Westmacott, der als britischer Botschafter in Ankara die Londoner EU-Ratspräsidentschaft vertritt, wurde am Dienstag mit den Worten zitiert, der Beginn der Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober könne nicht garantiert werden.

Regierungspolitiker machen sich und ihren Landsleuten mit dem Hinweis Mut, die EU habe schließlich im vergangenen Dezember einstimmig den Beginn der Beitrittsverhandlungen beschlossen; daran werde nun nicht mehr gerüttelt. Forderungen wie die des französischen Innenministers und Präsidentschaftsaspiranten Nicolas Sarkozy nach einem Ende der Erweiterung nach dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien spiegelten lediglich Einzelmeinungen wider, sagt Außenminister Abdullah Gül.

Nicht nur die Türkei-Skepsis bei vielen europäischen Politikern lastet auf der Stimmung. EU-Vertreter kritisieren immer unverblümter das Erlahmen des türkischen Reformschwungs. Auf einigen Gebieten gebe es eher Rückschritte als Fortschritte, sagte ein europäischer Diplomat vor kurzem. Wenn die EU derzeit ein Zeugnis über die Leistungen des Beitrittskandidaten ausstellen müsste, würde dies „nicht sehr gut ausfallen“, warnten andere EU-Vertreter. Türkische Menschenrechtler erklärten unterdessen, die Regierung versage beim Kampf gegen die Folter, die nach wie vor „systematisch“ von der Polizei eingesetzt werde.

Inzwischen gibt es unmissverständliche Anzeichen dafür, dass die Regierung nervös wird. Erdogan warf kürzlich den EU-Botschaftern in Ankara vor, falsche Informationen über ein gemeinsames Gespräch zu verbreiten. Seinen engsten Verbündeten in der EU, den deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder, beschimpfte Erdogan wegen der Bundestagsentscheidung zur Armenierfrage öffentlich als Politiker ohne Rückgrat.

Schon werden erste Forderungen nach einer radikalen Neuausrichtung der türkischen Politik laut. Wenn Europa immer neue Grenzen aufzeige, solle die Türkei darüber diskutieren, wie weit sie für die EU-Mitgliedschaft zu gehen bereit sei, verlangte die Zeitung „Sabah“. Oppositionspolitiker fordern, die Türkei solle die von der EU geforderte indirekte Anerkennung der griechischen Republik Zypern verweigern, weil nicht klar sei, ob die Europäer ihre Zusagen bezüglich der Beitrittsgespräche einhalten würden.

Nach einer neuen Umfrage glauben 64 Prozent der Türken, ihr Land werde von der EU unfair behandelt. Fast jeder Dritte ist der Meinung, dass die EU die Türkei nie aufnehmen wird. Angesichts dieser Verunsicherung wird die Haltung der Erdogan-Regierung in den nächsten Wochen entscheidend sein. Rückt sie – möglicherweise unter dem Eindruck verschärfter Bedingungen der Europäer – vom Ziel des EU-Beitritts ab, dürfte sich die Stimmung weiter verschlechtern. Weitere Reformen würden dann noch schwieriger.

„Das Können des Kapitäns zeigt sich im Sturm“, sei einer der Lieblingssprüche von Erdogan, schrieb der pro-europäische Kolumnist Murat Yetkin am Dienstag. Jetzt könne der Ministerpräsident zeigen, wie man in schwerer See Kurs hält, fügte Yetkin mit Blick auf die bevorstehende schwierige Phase in den türkisch-europäischen Beziehungen hinzu: „Nun, Herr Kapitän, hier ist der Sturm.“

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