Die Türkei braucht noch 50 Jahre, um ihr eigenes Haus aufzuräumen, meint ein Geschäftsmann in Istanbul am Tag nach dem historischen Luxemburger Montag ohne Illusionen. Dieser Montag war erst der Anfang. Die Hurra-Schlagzeilen der türkischen Blätter können nicht darüber hinwegtäuschen. In Zukunft würden sich immer neue Hürden auftun, es werde ständig neue Schwierigkeiten zu meistern geben, schreibt auch die Milliyet am Dienstag ernüchtert und führt zwei konkrete Beispiele vom Tag danach an. Das Europaparlament habe nicht über ein Zusatzprotokoll zum Zollvertrag abgestimmt, und in der Pariser Nationalversammlung wurde in einem neuen Antrag die Anerkennung des Armenier-Genozids als Voraussetzung für einen EU-Beitritt gefordert. Und wenn die Türkei nicht bis zum Frühjahr 2006 ihre Häfen und Flughäfen für griechisch-zypriotische Schiffe und Flugzeuge öffne, könnten die Verhandlungen mit Brüssel gleich wieder suspendiert werden, folgert Milliyet. Dass ausgerechnet der gemäßigt islamische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan den Erfolg für sich verbuchen kann, die Türkei an die Pforte Brüssels geführt zu haben – das passt nicht nur seinen politischen Gegnern nicht. Erdogan sparte auch nicht mit Eigenlob. Das ist unser Erfolg, ein Erfolg unserer Nation. Und Außenminister Abdullah Gül wurde von Zeitungen mit den Worten zitiert, die Türkei werde als moslemisches Land in der EU einzigartig sein. Kritisch äußerte sich gerade in diesem Kontext Professor Hassan Ünal von der Istanbuler Bilgi-Universität. Erdogan will mit Hilfe der EU die Türkei islamisieren, meinte er in einer TV-Diskussion vor dem 3. Oktober. Die allein regierende moderat islamische AKP wolle auch die noch immer mächtigen Streitkräfte klein kriegen. Faktum ist, dass die Bildungspolitik der laizistischen Atatürk-Republik von der AKP stark geprägt ist; in der Beamtenschaft sei eine schleichende Islamisierung vonstatten gegangen, klagen Kritiker. Die Rolle der Briten – dazu gehört auch das Ringen des britischen Außenministers im Kreis der 25, um die Türkei trotz aller Widerstände an Bord zu holen – wird von türkischen Experten keineswegs als Schritt eines uneigennützigen EU-Vorsitzes gesehen. Aus historischen Erfahrungen heraus hält sich die Liebe der Türkei zu Großbritannien in Grenzen. London wolle neben den USA wieder zu einem politischen Akteur in der Nahost-Region werden, und das habe reichlich wenig mit den EU-Interessen zu tun. Andererseits wollten sich die Amerikaner nach dem Desaster im benachbarten Irak wieder Liebkind in Ankara machen. Nach Frust und Frost rund um den Irak-Feldzug, wo die Türkei den USA die Gefolgschaft als Aufmarschgebiet verweigert hatte, mache Washington Ankara wieder Avancen, so das Blatt Aksam. Täglich würden US-Diplomaten im türkischen Außenamt vorstellig, mit der Devise Ruhig Blut bewahren und sonstigen guten Ratschlägen. Und Österreich? Ein türkischer TV-Kommentator brachte die Nähe Österreichs zu Kroatien ins Spiel, denn schließlich waren beide Nationen einst in der Donaumonarchie vereint. Die Österreicher stünden den Balkan-Völkern viel näher als etwa die Deutschen. Ein Bollwerk gegen den Islam zu sein – dieses Rollenverständnis wirke seit 1683 im österreichischen Volk nach. Wäre das ottomanische Heer nicht in Wien gestoppt worden, so stünde womöglich ganz Westeuropa heute unter dem Halbmond, argumentiert ein Experte laut Turkish Daily News.
(Von Hermine Schreiberhuber/APA)
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