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Der Erste Weltkrieg und die Standschützen

Das Wehrsystem der k.u.k.-Monarchie war zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also unmittelbar vor dem ersten großen Krieg, folgendermaßen gegliedert:

1. Die gemeinsame Wehrmacht der beiden Reichsteile Österreich und Ungarn, die das kaiserliche und königliche (k.u.k) Heer sowie die Kriegsmarine umfasste.
2. Die Landwehr, in Zisleithanien die kaiserlich-königliche (k.k.) und in Transleithanien die königlich-ungarische (k.u.) Honved.
3. Der Landsturm in jedem der beiden Staaten.

Erstere stand unter dem Österreich und Ungarn umfassenden k.u.k. Kriegsministerium. Landwehr und -sturm unterstanden je nach ihrer Zugehörigkeit dem k.k. Ministerium für Landesverteidigung oder dem k.u.k. Landesverteidigungsministerium, wobei Landwehr und Landsturm als zweit- bzw. drittrangige Linie zur Unterstützung der gemeinsamen Wehrmacht gedacht waren. Ab 1867, dem Jahr des Ausgleichs zwischen Österreich und Ungarn, entwickelten sich die beiden Landwehren in einer Art nationaler Konkurrenz bis zu Kriegsbeginn 1914 allerdings zu annähernd gleichwertigen Truppen. Oberbefehlshaber über alle war uneingeschränkt der Kaiser und König.

Vorarlberg hatte – wie ein Teil der Grafschaft Tirol – in Landesverteidigungsangelegenheiten eine besondere Entwicklung genommen. Im 19. Jahrhundert, das nach dem Februarpatent 1861 die Errichtung von Landtagen brachte, wurde die Landesverteidigung in Tirol und Vorarlberg für das ganze Reich einmalig durch zahlreiche Sondergesetze und Verordnungen geregelt. Man hatte sich dabei von Länderseite auf jahrhundertealtes ständisches Recht berufen. Kernpunkt dieses Rechts war die Forderung, dass Landwehr (in Tirol und Vorarlberg Landesschützen, ab 1917 Kaiserschützen) und Landsturm nur im eigenen Land bzw. außerhalb desselben nur mit Zustimmung des Landtags eingesetzt werden sollten. Das Ringen um dieses Recht kennzeichnete wesentlich die wehrpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Land und Staat im 19. Jahrhundert. Ein Mitspracherecht im Bereich der gemeinsamen Wehrmacht, zu der das 1815 für ständig errichtete Kaiserjägerregiment gehörte (ab 1895 vier Kaiserjägerregimente), stand für unser Land und Tirol nie zur Debatte.
Die Gesetzesentwicklung bis zum Weltkrieg gipfelte im Landesverteidigungsgesetz für Tirol und Vorarlberg vom 25. Mai 1913. In diesem Gesetz war unzweideutig festgehalten, dass bei Gefahr im Verzug und bei nicht unmittelbar gefährdeten Landesgrenzen dem Oberbefehlshaber, also dem Kaiser, das uneingeschränkte Verwendungsrecht über diese Truppenteile zustand. Bei einer diesbezüglichen Entscheidung war keine Zustimmung des Landtags notwendig, sondern lediglich die nachträgliche Mitteilung an denselben. Dass die Einschränkungen, die im Gesetz bezüglich des Einsatzes der Landwehr außer Landes gemacht wurden, inhaltslos waren, zeigte ja bereits das Jahr 1914, das nicht nur die Landesschützen, sondern auch bereits den Landsturm an der Ostfront und auf dem Balkan sah.

Von Tirol und Vorarlberg dahingehend vorgebrachte Proteste wurden abgewiesen, da sie auch tatsächlich rechtlich nicht begründbar waren. Denn im Jahre 1914 war durch das Heranrollen der 'russischen Dampfwalze' in Galizien Gefahr im Verzug und die Tiroler Landesgrenze war durch die zwar unsichere, aber dennoch vorerst vorhandene Neutralität Italiens nicht unmittelbar gefährdet. Die den Ländern Tirol und Vorarlberg – für das ganze Reich einmalig – zur Regelung ihrer Landesverteidigung zur Verfügung stehende Landesverteidigungskommission war nach jahrelangen Auseinandersetzungen mit den Regierungsstellen zu Kriegsbeginn in einer Bedeutungslosigkeit angelangt, die sie nunmehr eine Hilfsbehörde des k.k. Ministeriums für Landesverteidigung sein ließ und die Länder von allen wesentlichen Entscheidungen ausschloss. De facto hatten die gefürstete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg in Bezug auf die Landesverteidigung keine Sonderrechte mehr, im Gegenteil, sie hatten sogar Sonderverpflichtungen: die Standschützen.

Das Schießstandwesen unterstand im Wege der oben bereits erwähnten k.k. Landesverteidigungskommission dem k.k. Ministerium für Landesverteidigung. Allein durch diese Unterstellung wird die Bedeutung klar, die von Seiten des Staates dieser eigentlich bürgerlich-zivilen Einrichtung beigemessen wurde. Das Schießstandwesen fußte in Vorarlberg auf der Tradition, sich freiwillig im Kämpfen zu üben, um nach ständischem Muster selbstständig das Land gegen den eindringenden Feind verteidigen zu können. Das im 19. Jahrhundert in Oberitalien ständig kriegerisch verwickelte Kaisertum Österreich erkannte die Bedeutung der Wehrhaftigkeit im Tiroler Raum und machte sich die dort von unten her organisierten Einrichtungen zur Wehrertüchtigung nunmehr von oben her durch Gesetze und Schießstandordnungen zu Eigen. Die Schießstandordnung, der die Standschützen zu Kriegsbeginn unterlagen, war jene vom 25. Mai 1913, die als 26. Gesetz dem über Landesverteidigung desselben Jahres angeschlossen worden war. Das Landesverteidigungsgesetz stellte unmissverständlich die Landsturmpflicht der k.k. Schießstände fest; dass für den Einsatz des Landsturms, also auch der Standschützen, dieselben Beschränkungen oder, besser gesagt, Nichtbeschränkungen in Bezug auf den Einsatz außer Landes galten wie für die Landesschützen, wurde schon dargelegt.

Nachdem der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo die österreichisch-ungarische Kriegserklärung an Serbien und das kaiserliche Manifest "An meine Völker" gefolgt waren, begann der Weltkrieg. In uns heutigen Menschen rückblickend naiv anmutender Unkenntnis des Kommenden fluteten patriotische Begeisterungswellen durch die Völker Europas, die alsbald vernichtend aufeinander prallen sollten.

In kriegerischer, siegesbewusster Stimmung gingen auch aus Tirol und Vorarlberg neben anderen Truppen die Kaiserjäger, die Landesschützen und der Landsturm mit klingendem Spiel nach Galizien und Serbien, mit ihnen auch jene Standschützen, die in diesen Truppen dienstpflichtig waren. Zurück blieb nur, wer entweder zu jung, zu alt oder untauglich war. Und diese im Lande gebliebenen Standschützen wurden nunmehr gesetzmäßig als zusätzlicher Landsturm aufgeboten. Bereits am 10. August 1914 erließ der Landesoberschützenmeister von Vorarlberg, Landeshauptmann Adolf Rhomberg, auf Anordnung des k.u.k. Militärkommandos in Innsbruck die diesbezügliche Weisung. Mit der Bildung von Formationen wurde nunmehr das "Standschützenkorps" in Tirol und Vorarlberg aufgestellt. In diese Formationen eingeteilt wurde so gut wie jeder aus oben angeführten Gründen daheim gebliebene Standschütze. Rücksichtnahme wurde nur jenen zuteil, die über 60 Jahre alt oder gänzlich ungeeignet waren. Musterungen wurden, wenn überhaupt, der Not am Mann gehorchend, auf das Oberflächlichste abgehalten. Bereits Ende August 1914 konnten die in Vorarlberg aufgestellten sechs Bataillone von Landesoberschützenmeister Rhomberg vereidigt werden. Die Standschützen wurden vorerst zu verschiedenen Wach- und Sicherungsdiensten in der Heimat eingeteilt und mussten sich durch Gefechtsdienstübungen auf einen allfälligen Einsatz vorbereiten. Die großen Verluste im Osten und die daraus resultierende Furcht, selbst dort eingesetzt zu werden, ließen die Begeisterung der Standschützen zeitweise sinken. Ihre Furcht war durchaus nicht ganz unberechtigt. Denn genauso wie der Einsatz der Landesschützen und des Landsturmes außer Landes dem Gesetz entsprochen hatte, hätte es derjenige der Standschützen, da sie ja durch das Landesverteidigungsgesetz auch zum Landsturm gemacht worden waren. Dem Versuch der Landeshauptleute von Tirol und Vorarlberg, in der Zeit der Not gegen die zweifelsohne korrekte Anwendung des Landesverteidigungsgesetzes Front zu machen, war verständlicherweise kein Erfolg beschieden. Dass der Staat das Gesetz in seinem Sinn ausgelegt hatte, war legitim und entsprach auch der damaligen öffentlichen Meinung. Die Interventionen Tirols und Vorarlbergs gegen einen Einsatz außer Landes sind auch nicht als prinzipielle Opposition gegen die Staatsführung zu sehen, sondern entsprangen mehr der Sorge um den Einsatz alter Jahrgänge und um den militärischen Kräftemangel dem unsicheren Italien gegenüber. Die mit Beginn des Jahres 1915 nach Süden hin immer gespannter werdende Lage ließ jedoch einen allfälligen Einsatz der Standschützen im Osten gegenstandslos werden.

Im März 1915 erklärte sich Österreich auf Druck des Deutschen Reiches bereit, das Trentino abzutreten, um den Kriegseintritt Italiens an der Seite der Feindmächte zu verhindern. Doch das Angebot war Italien nicht weit reichend genug, es lehnte ab. Nachdem am 26. April die Entente dem Königreich Italien im Geheimvertrag von London weit gehende Gebietserwerbungen zugesagt hatte (unter anderem Tirol bis zum Brenner), kündigte es am 4. Mai den Dreibundvertrag und erklärte am 23. Mai Österreich-Ungarn den Krieg. Noch einmal wandte sich der greise Kaiser mit einem Manifest an "seine Völker". Ein Aufschrei der Entrüstung ging durch Österreich. Das längst schon Befürchtete war Wirklichkeit geworden. Aber nicht nur in den deutschen, sondern auch in den südslawischen Ländern der Monarchie hatte der Kriegseintritt Italiens das Aufbieten aller noch vorhandenen Kräfte zur Folge. Denn Slowenen, Kroaten und Serben sahen durch die italienische Aggression ihre Heimat ebenso gefährdet wie die Deutschen ihr Tirol. Dieser nationalistischen Komponente der nunmehr aufstehenden Verteidigungsmacht ist im Jahre 1915 auch noch jene der Liebe zum Kaiser und zum gemeinsamen Vaterland an die Seite zu stellen. Völkisches und monarchisches Denken und Fühlen verbanden sich in diesem beginnenden Kampf zu einer ungeahnten, vor allem vom Feind unterschätzten Kraft.

Am 23. Mai, dem Tag der Kriegserklärung, zogen ca. 3.500 Mann in den sechs Bataillonen Bludenz, Feldkirch, Rankweil, Dornbirn, Bregenz und Bezau aus dem Ländle an die Front. Zusammen mit anderen Ländern hatten Tirol und Vorarlberg für die 350 km lange Grenze etwas mehr als 35.000 Mann auf die Beine gestellt, jeder 10. ein Vorarlberger. Ungeachtet der patriotischen Begeisterung griff die harte Wirklichkeit des modernen Krieges auch nach den Standschützen. Ihr militärischer Wert war unterschiedlich. Die Standschützen waren seinerzeit in tiefstem Frieden freiwillig dem Schießstand beigetreten und hatten großteils nicht mit diesen weit reichenden Folgen gerechnet. Durch das Gesetz von 1913 war jeder landsturmpflichtig geworden und konnte nach Aufbietung desselben nicht mehr aus dem Schießstand austreten.

Die Einteilung in die Formationen betraf im Wesentlichen, durch die Kriegsereignisse bedingt, jene Standschützen, die unter 19 und über 42 Jahre alt waren; jene daheimgebliebenen Standschützen, die zwischen diesen Jahrgängen lagen, waren für den regulären Militärdienst untauglich gewesen. Die Masse wird also in den Vierzigern gewesen sein, Männer, die eine familiäre und berufliche Existenz zu verlieren hatten. Es darf also nicht verwundern, dass sich bei einigen die Lust zum Kampfe in Grenzen hielt. Ungeachtet dessen ist es auch eine Tatsache, dass sich viele freiwillig zu den Standschützen gemeldet hatten, oft erst, nachdem der Kriegseintritt Italiens als sicher galt, und dass sich die meisten auch ohne Landsturmpflicht nicht vor dieser Aufgabe gedrückt hätten. Nach dem Gesetz war also keiner ein Freiwilliger, wohl aber die meisten in Bezug auf ihre innere Einstellung. Um welchen Prozentsatz es sich dabei gehandelt haben könnte, zeigt die Tatsache, dass sich die Zahl der Standschützen in den Feldformationen innerhalb eines Monats von etwa 25.000 auf etwa 20.000 reduziert hatte.

Zu diesen Abgängen führten allerdings nicht sosehr die Kampfeinwirkungen als vielmehr die ungeheuren Strapazen, denen die oft für den Kriegsdienst ungeeigneten Männer im Hochgebirge ausgesetzt waren. Viele mussten krank oder gänzlich untauglich nach Hause zurückgeschickt werden. Diejenigen Standschützen, die an der Front verblieben, bildeten allerdings einen harten Kern, der in den folgenden schweren Jahren nicht nur seine Aufgabe als Hilfstruppe voll erfüllen konnte. Vier Jahre sollte dieser Krieg dauern. Vorarlberg kostete er neben ungeheuren Entbehrungen der Zivilbevölkerung ca. 5.000 Gefallene, viele Vermisste, Verwundete und Gefangene. Nebenbei zerbrach 1918 eine Welt und der Friede, der begann, trug den neuen Krieg schon in sich. R.E.B.

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Bild: Wachposten in Eis und Schnee. Nicht nur der Feind, sondern auch die Anstrengungen und Gefahren im Hochgebirge forderten viele Opfer.
Wachposten in Eis und Schnee. Nicht nur der Feind, sondern auch die Anstrengungen und Gefahren im Hochgebirge forderten viele Opfer.
Bild: Die Verabschiedung der Standschützen erfolgte im ganzen Lande mit großer Anteilnahme und zum Teil mit ebenso großen Befürchtungen, denn der Krieg hatte in den ersten Jahren bereits viele Opfer gefordert. Hier die Verabschiedung der Feldkircher Schützen unter dem Kommando von Philipp Ganahl am 23. Mai 1915. Schützenscheibe der Feldkircher Schützengesellschaft
Die Verabschiedung der Standschützen erfolgte im ganzen Lande mit großer Anteilnahme und zum Teil mit ebenso großen Befürchtungen, denn der Krieg hatte in den ersten Jahren bereits viele Opfer gefordert. Hier die Verabschiedung der Feldkircher Schützen unter dem Kommando von Philipp Ganahl am 23. Mai 1915. Schützenscheibe der Feldkircher Schützengesellschaft
Bild: Das Schützenwesen hatte in Vorarlberg eine lange Tradition und war auch Teil des gesellschaftlichen Lebens. 1878 feierte ein Feldkircher Standschütze mit dieser Schützenscheibe seine sechzigjährige Zugehörigkeit. Schützengesellschaft Feldkirch
Das Schützenwesen hatte in Vorarlberg eine lange Tradition und war auch Teil des gesellschaftlichen Lebens. 1878 feierte ein Feldkircher Standschütze mit dieser Schützenscheibe seine sechzigjährige Zugehörigkeit. Schützengesellschaft Feldkirch
Bild: Landeshauptmann Adolf Rhomberg (im Auto links) war als Landesoberschützenmeister den Anordnungen des k.u.k. Militärkommandos verpflichtet. Lustenau 1914
Landeshauptmann Adolf Rhomberg (im Auto links) war als Landesoberschützenmeister den Anordnungen des k.u.k. Militärkommandos verpflichtet. Lustenau 1914
Bild: Die Ausbildung der Standschützen erfolgte in Vorarlberg; hier wurden sie auch zu Wachdiensten verwendet.
Die Ausbildung der Standschützen erfolgte in Vorarlberg; hier wurden sie auch zu Wachdiensten verwendet.
Bild: 1915 erfolgte überall in Vorarlberg der Marsch zu den Bahnhöfen und die Fahrt zum Kriegsschauplatz, Richtung Tirol. Auszug des Bataillons in Dornbirn
1915 erfolgte überall in Vorarlberg der Marsch zu den Bahnhöfen und die Fahrt zum Kriegsschauplatz, Richtung Tirol. Auszug des Bataillons in Dornbirn
Bild: Kriegsgefangene Standschützen auf der Überfahrt nach Albanien, wo sie zum Straßenbau eingesetzt wurden.
Kriegsgefangene Standschützen auf der Überfahrt nach Albanien, wo sie zum Straßenbau eingesetzt wurden.
Bild: Die provisorischen Gedenkstätten wurden nach und nach in fast allen Gemeinden durch steinerne Denkmale ersetzt. Aufnahme Fußach
Die provisorischen Gedenkstätten wurden nach und nach in fast allen Gemeinden durch steinerne Denkmale ersetzt. Aufnahme Fußach
Bild: Viele kehrten aus diesem Krieg nicht mehr zurück. In die Namenstafeln der vorerst noch provisorischen Gedenkstätten, wie hier auf dem Friedhof Dornbirn, mussten immer mehr Gefallene eingetragen werden; die anfängliche Kriegsbegeisterung schwand deshalb schnell.
Viele kehrten aus diesem Krieg nicht mehr zurück. In die Namenstafeln der vorerst noch provisorischen Gedenkstätten, wie hier auf dem Friedhof Dornbirn, mussten immer mehr Gefallene eingetragen werden; die anfängliche Kriegsbegeisterung schwand deshalb schnell.