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Kloster Mehrerau geht in Offensive

Bregenz - Am Kloster Mehrerau gab es einen Fall von Kindesmissbrauch. Abt Anselm fordert: Die Kirche muss ihr Verhältnis zu Sexualität überdenken.
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Nach anonymen Anschuldigungen geht Abt Anselm van der Linde in die Offensive. „Ja, es gab in den Achtzigerjahren auch einen Fall von Kindesmissbrauch in der Mehrerau.“ Der betroffene Pater wurde versetzt und unterzog sich einer Therapie. Dass derzeit zahlreiche Missbrauchsfälle an kirchlichen und weltlichen Schulen ans Licht kämen, zeige deutlich, „dass dies ein gesamtgesellschaftliches Problem ist“. Die katholische Kirche fordert Abt Anselm auf, endlich ihr Verhältnis zur Sexualität zu entkrampfen. Im Bregenzer Internat soll das Thema Missbrauch ehestmöglich in Seminaren mit Schülern, Lehrern und Eltern aufgearbeitet werden. „Wir müssen ein Klima schaffen, in dem Kinder wissen, dass sie geschützt werden“, sagt der Abt im VN-Interview. Dass Gewalt früher mitunter zu den Erziehungsmethoden des Internates zählte, bestätigt er. „Früher war das so. Freilich nicht nur bei uns.“ Die Mehrerau von heute sei mit damals nicht zu vergleichen. Der neue Internatsleiter Dominikus Matt bestätigt: „Seit Mitte der Achtziger gilt: Wer schlägt, muss gehen.“

„Wollen uns der Sache stellen“

Abt Anselm van der Linde und Internatsleiter Dominikus Matt im VN-Interview über Missbrauch und Gewalt:

Ein heute 60 Jahre alter ehemaliger Zögling des Privatgymnasiums Mehrerau erhob anonym in „Spiegel Online“ schwere Vorwürfe. Zwei Jahre lang sei er in den Sechzigerjahren in der Mehrerau immer wieder geschlagen worden. Weihnachten habe er in einer Kammer allein – zum Bibellesen verurteilt – verbringen müssen.

Abt Anselm: Ich kenne diese Vorwürfe, und ich will sie nicht kleinreden. Dass es früher Erziehungsmaßnahmen gab, die heute völlig undenkbar wären, muss man nicht in Frage stellen. Man muss sich der Sache stellen.

Gab es auch sexuellen Missbrauch?

Abt Anselm: Wir hatten einen Fall Anfang der Achtzigerjahre.

Was ist damals geschehen?

Abt Anselm: Ein Schüler wurde von einem Pater sexuell missbraucht. Der Pater hat gestanden. Am anderen Tag kamen die Eltern zu meinem Vorgänger ins Kloster.

Es kam zur Anzeige?

Abt Anselm: Nein. Der Vater des Buben hat damals dezidiert erklärt, dass er auf eine Anzeige verzichten würde, wenn die Mehrerau den Pater sofort aus der Schule abzieht. Der Pater wurde daraufhin nach Tirol versetzt. Die Mehrerau hat den Tiroler Bischof informiert. Der Pater hat sich einer Therapie unterzogen. Heute ist er 74 Jahre alt und wirkt als Priester in Tirol.

War das der einzige Fall von Kindesmissbrauch in der Mehrerau?

Abt Anselm: Im Internat ja. Sehr wohl gab es aber 2001 den Fall eines Mehrerauer Paters, der in Innsbruck studiert hat und dort ohne Erlaubnis des Abtes Nachhilfe erteilt hat. Dieser Pater hat dann einen Burschen aus dem Drogenmilieu geholt und später missbraucht. Mein Vorgänger Abt Kassian hat ihn sofort suspendiert. Der Pater ist gerichtlich verurteilt worden, blieb aber uneinsichtig. Er lehnt bis heute eine Therapie ab. Ihn könnten wir niemals wieder einsetzen, deshalb läuft gegenwärtig das Laisierungsverfahren, d. h. dass er seine priesterlichen Rechte und Pflichten verliert.

Pater Dominikus, Sie leiten das Internat erst seit zwei Monaten, waren aber selber Schüler in der Mehrerau.

Pater Dominikus: Von 1974 bis 1982.

Haben Sie Beispiele von Gewalt oder sexuellem Missbrauch erlebt?

Pater Dominikus: Wir hatten zum Teil schrullige Lehrer, klar. Aber in der Richtung, nein. Mir persönlich ist auch nie etwas passiert. Der eine Pater, der nach Tirol versetzt wurde, war einfach nach Ostern nicht mehr da. Aber dass es vereinzelt gewaltsame Übergriffe gab, kann ich bestätigen. Allerdings ist das lange her. Schon als ich im ersten Jahr als Erzieher gearbeitet habe, gab der damalige Internatsleiter ganz klar die Parole aus: Wer schlägt, der geht. Seit Mitte der Achtzigerjahre ist das kein Thema mehr.

Abt Anselm, seit Monaten häufen sich die Fälle von Kindesmissbrauch in christlichen Schulen.

Abt Anselm: Ich denke, spätestens nach den Vorwürfen gegen die Odenwaldschule, eine der bekanntesten deutschen Reformschulen, muss allen klar sein, dass das ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Ich halte deshalb auch die Idee der deutschen Familienministerin Kristina Schröder, einen runden Tisch mit allen Institutionen einzurichten, die mit Jugendlichen arbeiten, für eine gute Idee. Obwohl sich die Kirche da noch sträubt. Nur so kann ein Gesamtkonzept erstellt werden.

Ist nicht der Umgang der katholischen Kirche mit Sexualität mit ein Problem?

Abt Anselm: Wir dürfen nicht länger so verkrampft mit diesem Thema umgehen. Die Kirche muss die Sexualität offener und menschenwürdiger behandeln. Damals, als ich in Rom studiert habe und die ersten Missbrauchswellen in den USA bekannt wurden, ging rasch das Gerücht um, der Vatikan werde neue Regeln erlassen. Dass keine Homosexuellen mehr Priester werden dürfen, usw. Wieder wurde Homosexualität mit Pädophilie gleich­gesetzt, nach dem Motto: Alle Schwulen sind pädophil. Das hat natürlich dazu geführt, dass sich Betroffene erst recht versteckt haben.

Wie wird die Mehrerau nun mit dem Thema Kindesmissbrauch und Gewalt umgehen?

Abt Anselm: Ich denke, Missbrauch kündigt sich an. Wenn eine Vertrauensbasis besteht, merkt man viel schneller, dass was nicht stimmt. Ich habe heute im Religionsunterricht der 7. und 8. Klasse mit den Buben Klartext gesprochen. Wir werden gemeinsam einen Verhaltenscodex ausarbeiten. In Seminaren und Workshops wollen wir unter Einbeziehung der Eltern das Thema Missbrauch bearbeiten. Damit Schüler und Lehrer erkennen, wo Grenzen überschritten werden. Beide müssen sich schützen. Übrigens auch die Junglehrerin, die vor eine Klasse pubertierender 15-Jähriger tritt.

Und wenn ein Schüler sich jemandem anvertrauen will?

Abt Anselm: Wir werden dafür eine unabhängige Stelle einrichten, etwa beim Schularzt oder beim schulpsychologischen Dienst. Zudem hat jeder Lehrer als Beamter automatisch Meldepflicht. Jeder ehemalige Schüler, den solche Erlebnisse belasten, kann sich an mich persönlich wenden oder an die Ombudsstelle der Diözese Feldkirch.

Was kann ein Betroffener von Ihnen erwarten?

Abt Anselm: Ein offenes Gespräch in einem geschützten Raum, dass er gehört wird, dass wir uns für Vergangenes entschuldigen wollen. Vielleicht kann man so spät für Gerechtigkeit sorgen.

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