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"Merkel hat die Magie der Macht verloren"

Die internationale Presse stellt die Frage, ob das Ende der Ära Merkel in Deutschland eingeleitet wurde.
Die internationale Presse stellt die Frage, ob das Ende der Ära Merkel in Deutschland eingeleitet wurde. ©AP Photo/Markus Schreiber
Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen erwartet die internationale Presse für die Bundesrepublik den „heißesten politischen Winter ihrer Geschichte“. Der Blick der Kommentatoren richtet sich vor allem auf die Liberalen - und auf Angela Merkel. Ist ihre Ära nun zu Ende?

Zum Scheitern der Jamaika-Sondierungen heißt es am Dienstag in der “Neuen Zürcher Zeitung”:

“Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Merkel die Magie der Macht abhandengekommen ist. Stattdessen stellt sich Ratlosigkeit ein. Die naheliegende Antwort darauf ist, das Volk zu befragen. Zwar lehnen die meisten Kommentatoren und Politiker – namentlich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – diese ungewohnte Option reflexartig ab. Zudem sagten die Meinungsumfragen bisher voraus, dass eine Neuwahl die Machtverhältnisse nicht wesentlich ändern würde. Doch das war vor dem Scheitern von Jamaika. Das Ereignis könnte jetzt eine neue Ausgangslage für die Wähler geschaffen haben, auf die sie möglicherweise anders reagieren werden. Werden sie die kleinen Parteien bestrafen, die sich jetzt als Spielverderber gezeigt haben? Oder werden sie eine von ihnen stärken, um klare Machtverhältnisse zu schaffen? Werden sie ihre Enttäuschung mit noch mehr Stimmen für die AfD demonstrieren? Oder werden sie vielmehr die in die Opposition abgetauchte SPD wieder stärken? Prognosen sind in der heutigen Lage kaum möglich. Grund genug, die Wähler zu befragen.”

Die Londoner “Times” kommentiert:

“Die Bundeskanzlerin hatte im September die Wahlen nach einem dürftigen Wahlkampf nur knapp gewonnen. Aber es wurde weithin angenommen, dass sie als Chefin der größten Partei, der Christdemokraten, dennoch in der Lage sein würde, eine stabile Koalitionsregierung zustandezubringen. Stattdessen ist sie nun mit der schwersten politischen Krise ihrer zwölfjährigen Herrschaft konfrontiert. Ihre Tage sind gezählt. (…) Das ist eine schlechte Nachricht für Europa. Die Reformpläne von Präsident Macron in Frankreich hängen davon ab, dass ein starkes Deutschland eine dynamische Achse Paris-Berlin unterstützt. Wenn Merkel geht, steht Macron ohne Unterstützung allein im Wind. Innenpolitische Unsicherheiten behindern Großbritannien, Spanien und Italien. Bei den Mitteleuropäern wächst der Euroskeptizismus. Zudem ist Merkel zur Gefangenen ihrer früheren Fehler geworden und nicht mehr die unangefochtene Führerin Europas.”

Der “Guardian”, ebenfalls aus London, sieht die EU in Hinsicht auf die bevorstehenden Brexit-Verhandlungen abgelenkt:

“Die nun unvorhersagbare politische Szenerie in Deutschland bedeutet, dass die EU sogar noch stärker mit ihren wichtigsten Problemen ringen muss. In Frankreich kann Emmanuel Macron nun nicht mehr sicher sein, dass es möglich ist, mit Merkel eine starke französisch-deutsche Lokomotive zu bauen, mit der Reformen der Eurozone vorangetrieben werden können – was einer der Knackpunkte für die FDP war. Obwohl Deutschlands wichtigste Parteien hinsichtlich der Brexit-Verhandlungen völlig einer Meinung sind, werden die politischen Unsicherheiten die Aufmerksamkeit vom Rückzug Großbritanniens aus der EU weiter ablenken. Deutschlands Politik war in Europa oft umstritten, aber Merkels Rolle als Problemlöserin – etwa mit der Türkei in Sachen Immigration oder bei der Verhängung von Sanktionen gegen Russland wegen dessen Vorgehen gegen die Ukraine – war immer wieder von entscheidender Bedeutung. Das Versagen am letzten Wochenende in Berlin könnte der Anfang sehr schwieriger Zeiten gewesen sein.”

Die Amsterdamer Zeitung “de Volkskrant” schreibt:

“Die FDP hat sich im Wahlkampf für die Modernisierung der Wirtschaft und der Arbeitsverhältnisse eingesetzt. Hier gibt es in der Tat seit einiger Zeit viel zu besprechen. Und so ist verständlich, das (FDP-Chef Christian) Lindner für die neue Koalition ein klares liberales Profil forderte. Er will verhindern, zwischen den Christdemokraten und den Grünen zerrieben zu werden. (…)

Für die Politik von (Kanzlerin Angela) Merkels CDU und den Grünen gibt es in Deutschland keine Mehrheit. Sie könnten durchaus eine Minderheitsregierung bilden. Das wäre – nach skandinavischem Modell – ein interessantes Experiment im Dualismus von Regierung und Parlament. Merkel könnte dann noch einmal ihre Rolle als Künstlerin des Ausgleichs spielen – bis die CDU einen Nachfolger für sie gefunden hat.”

Die linksliberale französische Tageszeitung “Libération” kommentiert das Scheitern der Jamaika-Sondierungen in Deutschland und die möglichen Folgen für Europa:

“(Es ist) eine schlechte Nachricht für das politische Leben in Deutschland, aber auch für Europa, das nun eine seiner wichtigsten Säulen wanken sieht. Es ist auch eine schlechte Nachricht für die Idee eines offenen Europas, für das viele – wenn auch immer weniger – Europäer eintreten. Tatsächlich ist es die Einwanderungsfrage, die die legendäre politische Stabilität der Bundesrepublik nach und nach ausgehöhlt hat.”

Die spanische Zeitung “El Mundo”:

Madrid. “Deutschland steht vor einer Situation, wie es sie in seiner jüngeren demokratischen Geschichte noch nicht gegeben hat. Sie droht, 70 Jahre politischer Stabilität zu beenden. (…) Es wäre ein Fehler, wenn einige nun versuchten, das schwache Wahlabschneiden der Kanzlerin auszunutzen, die bei der letzten Abstimmung 65 Sitze verloren hatte, um ihren Rücktritt oder Neuwahlen zu fordern. Denn dies würde die Regierbarkeit des wichtigsten europäischen Motors gefährden. Umso mehr, wenn der wachsende Rechtspopulismus der AfD die deutsche Gesellschaft zu polarisieren droht.”

Die linksliberale polnische Zeitung “Gazeta Wyborcza” kommentiert:

“Das Ende der Sondierungsgespräche kann das Ende von Merkels politischer Karriere bedeuten, für sie ist das ein großer Imageschaden. Vor allem wenn das schlimmste Szenario wahr wird und es zu Neuwahlen kommt. Dann könnten die Deutschen die Kanzlerin zwar stärker unterstützen, man kann aber auch nicht ausschließen, dass die CDU Stimmen verliert und die Populisten der AfD dazugewinnen. Dann könnten Appelle, Merkel für ihre bisherige Politik und das Hereinlassen Hunderttausender Migranten im Jahr 2015 zur Rechenschaft zu ziehen, wahr werden. Es ist vorstellbar, dass die Partei Merkel zwingt, in den politischen Ruhestand zu gehen.”

Die slowakische Tageszeitung “Pravda” befürchtet nach dem Scheitern der “Jamaika”-Verhandlungen einen politischen Rückzug der Bundeskanzlerin Angela Merkel:

“Ein erzwungenes Aus für die ewige Kanzlerin hätte Auswirkungen auf ganz Europa. Nicht zufällig zitterte der Euro an den Finanzmärkten sogleich wie Espenlaub. (…) Merkel hat jahrelang dem wirtschaftlich ohnehin dominanten Deutschland in Europa auch eine politische Dominanz beschert. Sie verkörpert eine Ära der Stabilität nicht nur für Deutschland, sondern für Europa. In der Ära von Donald Trump, Wladimir Putin, Brexit und zunehmendem Extremismus ist sie die vielleicht letzte liberaldemokratische Welt-Führungspersönlichkeit. Mit ihrem Wort haben viele wichtige europäische Diskussionen begonnen und mit ihrer Stimme aufgehört. Sollte diese Ära zu Ende gehen, wenn gerade neue Krisen und grundlegende Zukunftsentscheidungen anstehen, würden wir das alle spüren.”

Und die sozialdemokratische Budapester Tageszeitung “Nepszava” schreibt in einem Kommentar am Dienstag:

“Jetzt ist es sogar ungewiss, ob Angela Merkel Kanzlerin bleiben wird. Mit Blick auf die Zukunft der EU ist das eine dramatische Nachricht. Merkel ist es zu verdanken, dass es der Union gelang, durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise zu kommen. Nach dem Beinahe-Bankrott der mediterranen Länder hielt sie die Euro-Zone zusammen. Es gelang ihr, die Flüchtlingskrise zu managen, in einer aussichtslos scheinenden Lage, als fast zwei Millionen Menschen Deutschland überschwemmten. Die deutsche Kanzlern ist die einzige, die nicht nur für die EU-Reformvorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron ein offenes Ohr hat, sondern die es auch versteht, mit den mittel-osteuropäischen Rebellen (wie dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban) im Gespräch zu bleiben. Ohne Angela Merkel können wir uns ein einheitliches Europa derzeit praktisch nicht vorstellen.”

(dpa/APA)

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