AA

Krankenpfleger vor Gericht

Mit der bisher größten bekannten Tötungsserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte beschäftigt sich ab Dienstag nächster Woche das Landesgericht Kempten.

Stephan L., der seit seiner Verhaftung am 29. Juli 2004 in ganz Deutschland als „Todespfleger von Sonthofen“ bekannt ist, wird der Prozess gemacht.

Die Anklage wirft dem 27-Jährigem 16fachen Mord, zwölf Mal Totschlag, ein Mal Tötung auf Verlangen sowie in zwei Fällen versuchten Totschlag vor. In seinem Geständnis nannte L. Mitleid als Motiv für seine Taten. Doch Ermittler und Angehörige hegen Zweifel: „Er ist relativ wahl- und ziellos vorgegangen“, sagt Wilhelm Seitz. Der Rechtsanwalt vertritt Angehörige von elf Todesopfern als Nebenkläger.

Seine erste Stelle nach der Ausbildung hatte L. nach wenigen Monaten aufgeben müssen. Die Vorgesetzten am Klinikum Kempten hielten ihn als OP-Helfer für ungeeignet. Später fand die Polizei in seiner Wohnung einen Laptop, gestohlen aus dem Klinikum, und einen Computer, der aus einem Arztzimmer verschwunden war.

Mit einem gutem Zeugnis fand der 23-jährige Pfleger jedoch schnell in der Klinik Sonthofen einen neuen Job. Nicht einmal einen Monat nach seinem Dienstantritt soll er am 2. Februar laut den Ermittlungen den ersten Giftcocktail gespritzt haben: Diazepam versetzt das Opfer in Narkose, das Muskelrelaxans Esmeron führt zum Erschlaffen aller Muskeln – einschließlich des Zwerchfells für die Atmung. Ein Schlaganfall-Patient, bei dem der Chefarzt zuvor irreversible Gehirnschäden diagnostiziert hat, starb innerhalb weniger Minuten.

Einen Monat später soll L. eine schwerstkranke Frau getötet haben. Am Tag darauf einen Pensionisten, der nach einem Schlaganfall in wenigen Tagen entlassen werden sollte – der erste Fall, den die Staatsanwalt nicht als Totschlag, sondern als Mord einstuft.

Im April 2003 folgen drei weitere Fälle: eine todkranke Krebspatientin ebenso wie zwei Pensionistinnen, die bereits auf dem Weg der Genesung waren. Über ein Jahr blieben zwei Dutzend weitere Fälle unentdeckt: Es gab keine Einstichstellen, L. brauchte für die Spritzen nur die Klappe der Infusionskanülen zu öffnen. Die Medikamente bestellte er den Ermittlungen zufolge selbst nach. Bis Stephan L. im Juli 2004 wegen der Unterschlagung der Todesmedikamente aufflog, soll er 17 Frauen und zwölf Männer im Alter von 40 bis 94 Jahren getötet haben.

Insgesamt 16 Tötungen gestand er der Polizei, an manche konnte er sich nicht erinnern. Die Ermittler ließen 42 Leichen exhumieren. Bei mehreren wies die Münchner Rechtsmedizin Spuren der Todescocktails nach. In seinem Geständnis klagte Stephan L. über Frust mit seiner Freundin: Seine Verlobte habe ihn seit Jahren tyrannisiert. Für die Verteidigung ist dies neben einer schwierigen Kindheit mit einer angeblich psychisch labilen Mutter eine Erklärungsmöglichkeit für eine seelische Störung.

Am 4. Juni 2003 – 20 der angeklagten Tötungen sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht begangen – war eine Soldatin nach einem Unfall in Sonthofen eingeliefert worden. Als sie auf dem Röntgentisch lag, soll ihr L. eine Spritze in die Infusionskanüle injiziert haben. Die 22-Jährige weiß, dass Pfleger keine Spritzen geben dürfen. Sie beschwerte sich und ließ den Dienst habenden Arzt rufen. L. stritt alles ab. Die Soldatin wurde kurz darauf bewusstlos, doch ihre Atmung blieb stabil. Der Arzt aber glaubte ihr laut Anklage nicht…

home button iconCreated with Sketch. zurück zur Startseite
  • VOL.AT
  • Vorarlberg
  • Krankenpfleger vor Gericht