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Kindesmissbrauch: "Alle Beziehungen werden damit vergiftet"

Die Beratungsstelle "Tamar" in Wien hilft Opfern in Missbrauchsfällen.
Die Beratungsstelle "Tamar" in Wien hilft Opfern in Missbrauchsfällen. ©APA/Sujet
"Das Gefühl von jemanden abhängig zu sein, der mit einem machen kann, was er will, vergiftet sie - und das macht die Arbeit oft schwer und langandauernd", beschreibt Psychotherapeutin und Prozessbegleiterin Sonja Wohlatz ihre Tätigkeit.

Seit 20 Jahren hilft sie misshandelten und sexuell missbrauchten Frauen, Mädchen und Kindern. “Die Arbeit mit dem Beziehungssystem der Kinder und Jugendlichen ist extrem wichtig. Wenn dieses gut reagiert, ist dies viel heilsamer als alles anderes”, betonte sie. Hier setzt dann auch die Therapie an.

Eine möglichst frühe therapeutische Aufarbeitung sei dabei nicht immer die beste Lösung: “Wenn jemand 15 oder 16 Jahre alt ist und einen Missbrauch der Umgebung eröffnet, kann es sein, dass eine Therapie zu diesem Zeitpunkt gar nicht hilfreich ist. Da ist das Gefühl ‘Wieso ich? Ich bin doch in Ordnung und habe doch gesagt, was ist’.”Es sind drei Tatbestände, welche den Fall verschlimmern. Sonja Wohlatz, Geschäftsführerin der Beratungsstelle “Tamar” in Wien: “Je jünger das Kind ist, desto unspezifischer und schwerer zu fassen sind die Auswirkungen. Je länger der Missbrauch andauert und je mehr Gewalt mit ihm verbunden ist. Und, wenn es keine Person gibt, die das glaubt und die Betroffenen schützt.”

Missbrauch: Netz der Betroffenen versagt oft

Das so wichtige schützende Netz für Betroffene würde aber häufig versagen: “Die Regel ist bei sexuellem Missbrauch ganz häufig, dass Familien sich spalten und so ein Großteil der Verwandten für das Kind wegfällt. Sie sagen dann etwa: ‘Das hättest Du nicht sagen sollen’ oder sie halten gar zum Täter”.

Als katastrophal bezeichnet Wohlatz sexuellen Missbrauch unter Geschwistern, denn dabei droht den Betroffenen nicht nur die Spaltung, “denn als Konsequenz wird der Täter oft mit dem Vorwand irgendwelcher Entwicklungsstörungen oder Psychoproblemen beschützt.” Das sei dann eine der schwierigsten Arbeiten in ihrem Tätigkeitsfeld, das sich durch alle sozialen Klassen ziehen würde.

Häufiger Verbrechen im Bekanntenkreis

Grundsätzlich würden die Verbrechen in einem Beziehungsrahmen viel häufiger als solche mit fremden Tätern vorkommen. “Sie stammen aus der Nachbarschaft oder aus dem Bekanntenkreis. Manchmal gibt es auch Fremdtäter, aber diese sind meist leichter zu finden als der Onkel oder die Tante. Das Bewusstsein ist beim ‘Mann an der Ecke’ größer.” Grundsätzlich habe sich die Aufmerksamkeit verstärkt, sagte Sonja Wohlatz: “Ich hab das Gefühl, dass es am Anfang noch mehr im Geheimen war, und es jetzt öffentlicher ist in dem Sinne, dass vor allem Mütter schneller reagieren.”

Es würde zudem einen Unterschied machen, wer die Tat begeht: “Die Psychowissenschaft würde sagen, dass es keinen Unterschied macht, ob man von einem Mann oder einer Frau missbraucht wird. Das würde ich aber so nicht unterschreiben. Für ein Mädchen kann es besonders beschämend sein, von einer Frau missbraucht zu werden. Es gibt eine unterschiedliche Wahrnehmung der Sexualität von Männern und Frauen in der Hinsicht, dass man Frauen eher eine passive Rolle zuschreibt, während der Mann aktiv zu sein hat. Buben können in diesem Fall hingegen auch so reagieren, dass sie den Missbrauch als erste sexuelle Erfahrung definieren.”

Einen Satz würden dabei alle Beteiligten inzwischen “im Chor” singen können, so Sonja Wohlatz: “Keine Person und keine Institution kann allein sexuellen Missbrauch abklären, beenden und die Folgen abfangen.” Daher sei es wichtig, dass die unterschiedliche involvierten Berufsgruppen koordiniert zusammenarbeiten, wenn ein Fall bekannt wird.

(APA)

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