AA

Jean Ziegler: "Ohne Gewalt geht es sicher nicht"

Jean Ziegler im Studio der ZIB24 des ORF.
Jean Ziegler im Studio der ZIB24 des ORF. ©Screenshot ORF
Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, zählt zu den prominentesten und schärfsten Globalisierungskritikern. Dieser Tage ist Ziegler, der am 19. April seinen 85. Geburtstag feiert, in Wien, wo er u.a. sein neues Buch "Was ist so schlimm am Kapitalismus?" vorstellte, in dem er "Antworten auf die Fragen meiner Enkelin" gibt.

APA: Herr Ziegler, Sie haben am Montag im Rathaus eine Wiener Vorlesung zum Thema “Was ist so schlimm am Kapitalismus?” gegeben. Wie war es?

Jean Ziegler: Unglaublich. Es waren 1.400 Menschen da, und es wurden noch ein paar Hundert abgewiesen. Der große Festsaal war voll, die Veranstaltung wurde auch in den drei umliegenden Sälen übertragen. Wien hat ein so lebendiges, kritisches Publikum! Das finde ich ganz großartig. Man spürt die Unruhe der Menschen. Was absolut neu ist, sind die “Fridays for Future”, die Demonstrationen der Kinder. Vergangene Woche sind Millionen Kinder in 82 Ländern auf die Straße gegangen, haben ihre Regierungen angeklagt und gesagt: Tut etwas gegen die Zerstörung des Planeten! Ihr habt vor drei Jahren in Paris das Klimaabkommen unterschrieben und seither nichts getan! Die Katastrophe ist vorprogrammiert, und die Kinder akzeptieren das nicht.

APA: Sie richten sich in Ihrem neuen Buch an Ihre Enkelin Zohra. Macht sie auch mit bei den Schülerdemos?

Ziegler: Das Buch ist als Dialog gemacht, weil das leserlicher ist als ein soziologischer Essay. Zohra ist vier Jahre alt, aber ich habe fünf Enkel im Alter von vier bis 16 Jahren, und das Buch ist die Niederschrift der Gespräche, die ich mit ihnen führe. Kinder stellen die richtigen Fragen – und zwar unbarmherzig. Ich bilde mir ja viel ein auf meine pädagogischen Fähigkeiten – ich war über 30 Jahre Professor für Soziologie in Paris, in Genf usw. -, aber das besteht nicht vor Kindern. Wenn die Antworten nicht glasklar sind und überzeugend, sind sie unbarmherzig. Deswegen war das auch therapeutisch gut für mich, ein wenig die Bilanz all’ meiner Kämpfe zu ziehen – im Dialog mit den Kindern.

APA: In Ihrem Buch heben Sie immer wieder hervor, dass das Kernproblem der Kapitalismus ist, die wahren Mächtigen die Großkonzerne. Also haben die Schülerproteste doch den falschen Adressaten?

Ziegler: Sie haben absolut Recht. Das Problem sind die Konzerne. Wir leben in der Weltdiktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals – ich bringe dafür viele Beispiele in meinem Buch. Die 500 größten transkontinentalen Privatkonzerne haben letztes Jahr laut Weltbank-Statistik 52,8 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert. Sie haben eine Macht, wie es in der Geschichte der Menschheit nie ein Kaiser, nie ein König, nie ein Papst gehabt hat. Diese Oligarchien entschwinden jeder sozialen Kontrolle. Sie diktieren ihr Gesetz auch den stärksten Staaten der Welt.

APA: Aber genau deswegen richten sich die Proteste ja gegen die Falschen?

Ziegler: Schon das Erwachen des Bewusstseins ist großartig. Es entsteht heute unter unseren Augen ein neues historisches Subjekt, nämlich die planetarische Zivilgesellschaft, diese Myriade von großen und kleinen sozialen Bewegungen, die an den verschiedensten Fronten gegen diese kannibalische Weltordnung kämpfen. Der revolutionäre Prozess in der Geschichte ist absolut mysteriös. Plötzlich bricht das Bewusstsein durch.

APA: Während Sie im Großen die Entmachtung der Staaten konstatieren, erleben wir doch in den vergangenen Jahren ein Wiedererstarken des Nationalstaats, des Nationalismus. Der vorherrschende Trend heißt Entsolidarisierung.

Ziegler: Stimmt. Es kann alles falsch laufen. Einerseits gibt es diese Bewusstwerdung der Jungen, das Erstarken der Zivilgesellschaft. Aber leider erstarken auch die dunklen Kräfte. Die Flüchtlingspolitik der EU ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. An der kroatischen Grenze werden Menschen, die Asyl wollen, zusammengeschlagen, anstatt ihr Gesuch zu prüfen, wozu man völkerrechtlich verpflichtet wäre. Fremdenhass, Antisemitismus und alle diese fürchterlichen Perversionen erstarken.

APA: Auch in der französischen Gelbwesten-Bewegung hat es antisemitische Übergriffe gegeben. Sie ist ein Zusammenschluss von radikalen linken und rechten Kräften gegen die herrschende politische Elite. Was halten Sie von den Gelbwesten?

Ziegler: Ich finde sie großartig. Trotz dieser perversen Infiltration, die man wahrscheinlich nicht vermeiden kann. Man darf das nicht verharmlosen, aber die Rechtsextremen sind total minoritär. Der Kern der Gelbwesten und ihre Energie kommt aus dem Basiswiderstand. Wir schulden ihnen Solidarität, Bewunderung und Unterstützung. Das ist der Aufstand der Armen. Es gibt neun Millionen Vollarbeitslose in Frankreich. Präsident Macron ist ein Präsident der Reichen. Er stellt die ganze Steuerhierarchie auf den Kopf. Der Durchschnittslohn für eine vierköpfige Familie beträgt 1.420 Euro im Monat, viele sind an der Armutsgrenze. Die Menschen sind dort aufgestanden. Sie akzeptieren die Ungleichheit nicht mehr und gehen jeden Samstag auf die Straße.

APA: In Frankreich haben die Proteste viel Anfangsympathie verloren, da sie immer in Gewalt eskaliert sind. Sind das gezielte Provokationen, oder ist das ein Prozess, durch den man durchmuss?

Ziegler: Ohne Gewalt geht es sicher nicht. Repression potenziert dabei den Widerstand. Hunderte Menschen sind von der französischen Polizei durch Gummigeschosse mit Metallkern teilweise schwer verletzt worden. Der Widerstand gegen die kannibalische Weltordnung wird aber nicht erlahmen. Er wird lange weitergehen.

APA: Sie werden am Dienstagabend die Otto Bauer Plakette entgegennehmen. Otto Bauer ist historisch eine durchaus umstrittene Figur, weil die Sozialdemokratie in den 1930er-Jahren den bewaffneten Widerstand so lange hinauszögerte, bis es zu spät war. Wie lässt sich der Kapitalismus erfolgreich bekämpfen? Sie schreiben ja in Ihrem Buch: Reformierbar ist der Kapitalismus nicht.

Ziegler: Das stimmt. Der Kapitalismus muss zerstört werden, bevor er uns zerstört. Ich bin sehr stolz auf die Plakette, die ich heute erhalte, weil sie das Gedächtnis an den demokratischen Widerstand in finsterster Zeit hochhält. Alle Europäer müssen den Österreichern unglaublich dankbar sein, denn Hunderte, ja Tausende Ihrer Landsleute haben im Widerstand gekämpft, und viele haben im Kampf für die Demokratie ihr Leben gelassen. Was immer man kritisch über Otto Bauer sagen kann: Dieses Gedenken ist wichtig für die junge Generation.

APA: Wer heute Österreich dankbar ist, sind Menschen wie der ungarische Ministerpräsident Victor Orban, die sagen: Seht, auch die Österreicher betreiben eine restriktive Flüchtlingspolitik!

Ziegler: Das ist total beschämend, es gibt aber auch in Österreich eine starke Zivilgesellschaft. Es hängt von uns ab, ob diese Zivilgesellschaft stärker wird und die anderen zurückgedrängt werden. Österreich ist wahrscheinlich die lebendigste Demokratie dieses Kontinents. Das habe ich gestern wieder gesehen: Die Lebendigkeit der Diskussion war beeindruckend! Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Auch Sebastian Kurz ist nicht vom Himmel gefallen für die Ewigkeit. Das sind Phänomene, die aus der Welt geschafft werden können durch Menschen, die aufstehen. Wann und wie das geschehen wird, weiß allerdings keiner.

APA: Sie feiern in Kürze Ihren 85. Geburtstag. Ihr Buch ist letztlich auch eine Reflexion über Ihren beständigen Kampf. Eigentlich ist diese Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Weltordnung auch ein Dokument Ihres eigenen Scheitern. Die kannibalische Weltordnung, der Sie immer den Spiegel vorgehalten haben, ist immer schlimmer geworden.

Ziegler: Einerseits bin ich gescheitert: Die kannibalische Weltordnung ist schlimmer denn je. Der Umgang mit Flüchtlingen, das Widererstarken des Faschismus, die wachsende Ungleichheit, Massaker, in Jemen, Somalia und im Südsudan – das alles ist schlimmer denn je. Aber das Bewusstsein, dass es so nicht weitergehen kann, die Wasserstandslinie der Zivilisation, ist gestiegen. Diese Evidenz, dass die Menschwerdung des Menschen im Gange ist, gibt Hoffnung.

(APA)

home button iconCreated with Sketch. zurück zur Startseite
  • VOL.AT
  • Politik
  • Jean Ziegler: "Ohne Gewalt geht es sicher nicht"