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„Islamischer Staat hat nichts mit dem Islam zu tun!"

Murat Gerdi (li.) wird mit dem Leid der Flüchtlinge im Irak, seiner alten Heimat, direkt konfrontiert.
Murat Gerdi (li.) wird mit dem Leid der Flüchtlinge im Irak, seiner alten Heimat, direkt konfrontiert.
Schwarzach - Fußball-Profi Murad Gerdi flüchtete als Kind aus dem Irak und erlebte eine glückliche Kindheit im Ländle. Am Samstag flog der Götzner erneut nach Arbil. Mit WANN & WO spricht er über das Terror Kalifat, Integration im Ländle und die Situation der Flüchtlinge in seiner alten Heimat.
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WANN & WO: Wie erlebten du und deine Verwandten die aktuelle Lage im Irak?

Murad Gerdi: In den Medien wird viel veröffentlicht, das man aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten kann. Der Islamische Staat ist eine Organisation, die ihren Terror nicht nur gegen die Bewohner der besetzten Gebiete richtet, sondern auch gegen alle ethnischen Gruppierungen oder Andersgläubigen, seien dies Christen, Jesiden, Muslime, Juden, usw. Als ich das Interview mit Michel Reimon gelesen hatte (WANN & WO, 27. September), entschloss ich mich, aktiv zu werden. Ich bin öfters im Irak und sehe als Doppelstaatsbürger meine Aufgabe darin, die Menschen hier in Vorarlberg, Österreich und Europa aufzuklären – und auch die Politiker an die menschlichen Tragödien zu erinnern und aufzufordern, dass solche Massenhinrichtungen, egal wo und von welcher Gruppierung ausgehend, mit allen Mitteln verhindert werden müssen.

WANN & WO: Welche Erfahrungen hast du vor Ort gemacht?

Murad Gerdi: In Arbil ist die Lage unter Kontrolle, trotzdem strömen auch in diese Stadt Tausende Flüchtlinge, was die Infrastruktur vor fast unlösbare Aufgaben stellt. Familien wurden nur mit den Sachen, die sie anhatten, zur Flucht gezwungen. Alte Menschen, Frauen und Kinder, Kranke – der Krieg macht vor keinem Halt. Unschuldige Menschen sterben aufgrund der IS-Barbarei. Die Menschen leben zum Teil auf der Straße oder in behelfsmäßigen Containern, wo sie auf engstem Raum zusammen auskommen müssen. Ein Kind erzählte mir, dass sie insgesamt 40 Personen sind, die in einem alten Stahlcontainer hausen.

WANN & WO: Wie beurteilst du den IS-Terror?

Murad Gerdi: Die Gruppierung hat überhaupt nichts mit dem Islam zu tun. Die bestialische Grausamkeit, welche diese IS-Barbaren an den Tag legen, kann ich in keinster Weise mit meiner religiösen Zugehörigkeit vereinbaren. Auch viele ehemalige Mitglieder von Saddam Husseins Regime haben sich den ISIS-Milizen bzw. jetzt Islamischer Staat angeschlossen. Auch die Kluft zwischen Shiiten und Sunniten hat viele in die offenen Arme der Terror-Organisation getrieben. Meine Familie und ich sowie nahezu die gesamte irakische Bevölkerung verurteilen das grausame Abschlachten Unschuldiger aufs Schärfste. Leider gibt es viel zu viele, die den Islam oder Religion als Vorwand nehmen, um ihre Greueltaten zu legitimieren.

WANN & WO: Wie beurteilst du die Situation in Europa. Laufen wir Gefahr, dass IS-Terrorzellen auch bei uns wachsen, z.B. bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund?

Murad Gerdi: Extremisten und Hassprediger versuchen, Jugendliche mittels Gehirnwäsche auf ihre Seite zu bringen. Das Problem liegt aber eher darin, dass die Jugendlichen selbst nicht wissen, wo sie hin gehören. Vielleicht haben sie auch schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht. Umso empfänglicher sind sie für die extremistischen Lehren solcher Prediger. Das müssen wir mit aller Kraft verhindern. Hier sehe ich auch unsere Politik in der Pflicht. Die europäischen Länder müssen gemeinsam mit der Islamischen Gemeinde dem Ganzen einen Riegel vorschieben. Soziales Umfeld, Bildung, Ausbildung, usw. müssen gerade bei Jugendlichen forciert werden. Nur so verhindern wir die gesellschaftliche Ausgrenzung. Denn die Integration in Europa hat sich meiner Meinung nach sehr positiv entwickelt, wenn man die letzten hundert Jahre betrachtet.

WANN & WO: Wie wird sich die Lage im Nord-Irak entwickeln?

Murad Gerdi: Angefangen hat alles mit dem Arabischen Frühling bis hin zum Bürgerkrieg in Syrien. Dadurch, dass sich dieser Kampf auf die Nachbarstaaten wie den Libanon und Irak ausgebreitet hat, konnte sich aus diesen versprengten Truppen auch erst der Islamische Staat formieren. Und die Waffen für alle oben genannten Konflikte stammen zum Teil aus Europa oder den USA. Im Fußball würde ich das als klassisches Eigentor bezeichnen. Ich glaube aber, dass der Kampf gegen IS in wenigen Wochen oder Monaten beendet sein wird – auch ohne den Einsatz von europäischen Bodentruppen. Denn die Irakische und die Kurdische Autonome Regierung möchten diesen Konflikt auf eigene Faust lösen – natürlich aber wieder unter Einsatz europäischer oder US- amerikanischer Waffen.

WANN & WO: Was möchtest du mit diesem Interview erreichen?

Murad Gerdi: Als meine Familie damals mit uns Kindern geflüchtet ist, habe ich die Grausamkeit des Kriegs am eigenen Leib erfahren. Diese Erfahrung wird bis zu meinem Lebensende ein Teil von mir bleiben. Ich kann das Leid der Menschen, die unter dem IS-Terror leiden, persönlich nachvollziehen. In Vorarlberg wurden wir mit offenen Armen empfangen. Durch Reisen in die Krisenregionen wird einem bewusst, wie gut wir es hier in Vorarlberg oder Österreich eigentlich haben. Ich würde mir zum Beispiel ein Gespräch mit dem Land wünschen, um die Politik darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig die Entsendung von Hilfs- gütern in die betroffenen Gebiete ist. Um nochmals in die Fußballersprache zu wechseln: Wir müssen uns als ein globales Fußballteam sehen, die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit spielt keine Rolle. Wir müssen alle an einem Strang ziehen, um das friedliche Zusammenleben zu ermöglichen.

Zur Person: Murad Gerdi

Alter, Wohnort: 28, Götzis
Beruf, Ausbildung: Einzelhandelskaufmann, Fußballprofi
Familienstand: Verlobt mit Aylin Banoglu
Hobbys: Reisen, Sport, Freunde treffen

Mit fünf Jahren: Flucht aus dem Irak

Im Alter von fünf Jahren flüchtete Murad mit seinen Eltern und Geschwistern aus dem Irak. Über die Türkei gelangte er schließlich nach Österreich und nach Vorarlberg. Dort fand er seine zweite Heimat und wurde mit offenem Armen empfangen. Vielen dürfte er auch aus dem Sportbereich als Ex-Profi bei der Lustenauer Austria bekannt sein.

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