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„In jeder Krise steckt eine Chance“

Covid-19 verändert das Leben von uns allen. Man kann aber genau das auch als Startschuss für mehr Miteinander nutzen
Covid-19 verändert das Leben von uns allen. Man kann aber genau das auch als Startschuss für mehr Miteinander nutzen ©APA-HANS KLAUS TECHT
Die Coronakrise bedeutet für viele: Mehr Zeit daheim, mit dem Partner und Kindern – und oft auch Spannungen. W&W sprach dazu mit Psychologin Annette Heinzle, Leiterin der ifs Familienarbeit.

WANN & WO: Wie sehr hat sich Ihr persönliches Leben bereits durch die Corona-Krise verändert?

Annette Heinzle: Mein Arbeitsalltag ist jedenfalls örtlich auf den Kopf gestellt. Krisenintervention an sich ist Teil unserer täglichen Arbeit, durch die aktuelle Situation mit Covid-19 und den damit verbundenen Vorgaben und Einschränkungen ist das nochmal komplexer. Homeoffice und die Verringerung der sozialen Kontakte sind ungewohnt und insbesondere meine Familie vermisse ich sehr. Nichtsdestotrotz ergeben sich in meinem Freundeskreis auch neue Arten der Kommunikation, wie beispielsweise Gruppentelefonate zu einer verabredeten Uhrzeit, die Spaß machen.

WANN & WO: Sie haben schon das Thema Homeoffice erwähnt. Viele Menschen sind auch gerade in Kurzarbeit oder ganz ohne Beschäftigung. Dadurch verbringen sie mehr Zeit mit dem Partner. Wie kann sich das auf Beziehungen auswirken?

Annette Heinzle: Auch wenn viele trotzdem arbeiten, wenn Spaziergänge oder eine Runde mit dem Rad möglich sind, so ist das Konfliktpotential in der aktuellen Situation sicher verstärkt. Es entwickeln sich mitunter Ängste in Bezug auf die Gesundheit von Angehörigen und sich selbst, aber auch existenzielle Ängste aufgrund von Kurzarbeit, drohendem Jobverlust oder gravierenden finanziellen Einbußen bei Selbständigen. Unterschiedliche Ansichten auf Paar- und Elternebene in Bezug auf die Handhabung der vorgegebenen Maßnahmen oder der Betreuung der Kinder, können rasch zu Unstimmigkeiten und Streit bis hin zu physischer und psychischer Gewalt führen. Zudem trifft es Familien, die ohnehin schon Mehrfachbelastungen ausgesetzt sind, besonders hart: Armutsgefährdete, Alleinerziehende, Familien in Scheidungs- und Trennungssituationen und erschöpfte Familien.

WANN & WO: Wie kann man diesen Konflikten vorbeugen, wie kann man sie lösen?

Annette Heinzle: Wenn die „Spannung steigt“ und man beginnt, gereizt auf das Gegenüber zu reagieren, dann ist Abstand eine gute Möglichkeit, um sich selbst wieder zu regulieren und dem Gegenüber Zeit und Raum zu geben. Dies gilt für alle Beziehungskonstellationen – sowohl für Paar- als auch für Eltern-Kind-Beziehungen. In Familien mit Kindern ist es möglich, die Kinder abwechselnd zu betreuen und mit ihnen in den Garten zu gehen, einen Spaziergang zu machen oder sich in unterschiedlichen Räumen aufzuhalten. Bleiben Sie in Bewegung und „schmieden Sie das Eisen, wenn es kalt ist“, das heißt das aktuelle Konfliktthema verschieben und zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufnehmen. Helfen können dabei Beratungseinrichtungen wie das ifs, die auch in diesen Zeiten telefonisch erreichbar sind. Auch möglich sind Deeskalationsgespräche für Paare, die in Form von Gruppentelefonaten geführt werden, in Vorbereitung sind auch Videositzungsoptionen.

WANN & WO: Opfer von häuslicher Gewalt sind noch mehr in Gefahr, wenn sie aufgrund der Ausgangsbeschränkungen bedrohliche Situationen nicht verlassen können. Was können diese Personen tun?

Annette Heinzle: Sollte sich die Situation zu Hause zuspitzen oder ein Konflikt entweder physisch oder psychisch gewalttätig eskalieren, dann ist es – wie auch in der Zeit ohne Corona – wichtig, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen und die Polizei hinzuzuziehen. Diverse Opferschutzeinrichtungen wie die ifs Gewaltschutzstelle, die ifs FrauennotWohnung und auch Täterberatungen wie die ifs Gewaltberatung sind erreichbar und unterstützen gerne.

WANN & WO: Welche Chancen bestehen durch die Corona-Krise vielleicht auch für Beziehungen?

Annette Heinzle: Das ist eine interessante Frage. Manche Familien erleben diese Entschleunigung bis zum jetzigen Zeitpunkt als Entlastung, der Leistungsdruck mit Schule und Job ist reduziert und man muss nicht „funktionieren“ wie sonst. Es ist möglich, durch die ungewohnte Menge an Zeit, den Partner bzw. die Kinder von einer anderen Seite kennenzulernen. Erfolgreich gemeisterte Entscheidungen, die Umsetzung kreativer Ideen für solche Tage daheim und gegenseitige Unterstützung in Phasen der Krisen und Ängste sind neue Erfahrungen, die Beziehungen intensivieren und vertiefen können. Sowohl die gemeinsame Zeit als auch die Zeit alleine kann beispielsweise für reflexive Prozesse genutzt werden, sich klar zu werden, was man wirklich möchte oder die Planung zukünftiger Vorhaben. In jeder Krise steckt mindestens eine Chance, auch wenn man sie manchmal nicht sofort erkennt.

WANN & WO: Auch für Kinder ist die Situation nicht leicht. Wie viele Details zur Situation sollten Eltern ihnen mitteilen und wie kann ihnen die Angst genommen werden?

Annette Heinzle: Größere Kinder freuen sich vielleicht erstmal, dass sie nicht in die Schule müssen, aber auch sie bemerken sehr bald, dass es keine gewohnten Ferien sind. Die Aufregung und die Ängste der Eltern können sich auf die Kinder übertragen. Sie spüren, dass etwas nicht stimmt. Ein wichtiger Aspekt besteht darin, den Kindern die Situation in angemessener Form zu erklären und je nach Alter spielerische Möglichkeiten zu nutzen, um dadurch mögliche Ängste und Sorgen abzubauen. Es gibt online einige Videos, die helfen, Worte und Formulierungen zu finden, um den Kindern die Situation zu erklären, etwa von der Stadt Wien. Ältere Kinder bekommen über die sozialen Medien einiges mit. Eltern sollten da nachfragen, was sie bereits wissen und welche Infos sie bekommen, auch um Dinge richtig zu stellen.

WANN & WO: Wie können Eltern ihre Kinder trotz Schulfrei und Spielplatzsperrungen beschäftigen?

Annette Heinzle: Singen oder Summen kann Ängste reduzieren und auch an die frische Luft gehen, im Garten spielen, einen Spaziergang als Familie im Wald machen oder eine Runde mit dem Rad zu fahren sind möglich. Neben Lernen, gemeinsamem Kochen, Putzen, Fotos sortieren oder aber auch Kleidung und Schuhe ausmisten sind natürlich Basteln, Steine bemalen, Handarbeiten und Handwerken sowie diverse Spiele und Puzzles angesagt. Hilfreich ist es, eine gewisse Tagesstruktur aufrecht zu erhalten, beispielsweise regelmäßige Essens- und Bettgehzeiten sowie Zeiten, in denen man rausgeht. Das kann Kindern Sicherheit geben. Und wenn man es kaum glauben mag, aber auch Langeweile darf sein und birgt die Gelegenheit, kreatives Potential zum Vorschein zu bringen.

WANN & WO: Viele Großeltern fühlen sich vor den Kopf gestoßen, wenn sie nicht mehr besucht werden oder ihr Angebot, auf die Kinder aufzupassen, abgelehnt wird. Wie können Eltern und Enkel die Wogen glätten?

Annette Heinzle: Unsere Erfahrung der letzten Tage zeigt, dass viele Großeltern nachvollziehen können, weshalb diese Notwendigkeiten nun gegeben sind, auch wenn sie es nicht begrüßen. Wir wissen, dass diese Maßnahmen zeitlich begrenzt sind – auch wenn wir noch nicht wissen wie lange. Bis dahin können Kontakte auch per Videotelefonie stattfinden. Im Gespräch zu bleiben und die Sorge um ihre Gesundheit mehrfach zu formulieren, kann jenen Großeltern helfen zu verstehen, die sich schwertun. Man kann Großeltern auch beispielsweise in Form von Fotos, die auch die Kinder selbst schießen können, am Alltag teilhaben lassen. Bei Großeltern, die sich mit digitalen Medien schwertun, kann man auf für sie bekannte Kontaktformen zurückgreifen, wie beispielsweise Briefe oder einen Fensterkontakt.

WANN & WO: Was raten Sie Paaren, Familien und Alleinstehenden allgemein in Zeiten von Corona?

Annette Heinzle: Gemeinsam und alleine Dinge zu tun, für die man sonst „keine Zeit hat“! Es ist eine Zeit der Entschleunigung, eine Zeit, die man nutzen kann, um Achtsamkeit und Selbstfürsorge zu üben. Die Dinge, die man gerade macht, langsamer, bewusster und nacheinander zu machen, kann einen Blick in die Stille und Ruhe und in sich selbst ermöglichen. Für all die Menschen, die jetzt mehr Zeit haben als gewohnt, sowie auch jene Menschen, die aktuell sehr viel zu tun haben: „Nichts bringt uns auf unserem Weg besser voran als eine Pause.“ (Elizabeth Barrett Browning 1806 - 1861)

ZUR PERSON

Annette Heinzle ist Klinische und Gesundheitspsychologin (Master of Public Health) und leitet als solche die

ifs Familienarbeit am Institut für Sozialdienste Vorarlberg. Die 41-Jährige studierte in Innsbruck, stammt ursprünglich aus Laterns und lebt heute in Röthis.

Trotz Corona: ifs Beratungsstellen weiter erreichbar

Wer psychosoziale Fragen und Probleme hat, kann sich auch weiter telefonisch an die ifs Beratungsstellen wenden. Das ifs nimmt die Maßnahmen der Regierung ernst und möchte zur Verlangsamung der Ausbreitung des Virus beitragen. Deshalb bleiben die ifs Beratungsstellen vorerst für den direkten persönlichen Kontakt geschlossen. Dem Team ist es wichtig, auch in diesen schweren Zeiten für Hilfesuchende da zu sein. Deshalb bietet das ifs telefonische Beratungen an. Die Öffnungszeiten, an denen die Beraterinnen und Berater erreichbar sind, sind auf www.ifs.at zu finden.

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