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Im Herzen des Atomreaktors

Nach ihrem Einsatz kühlen die Brennstäbe im Abklingbecken aus. Sechs Jahre dauert das.
Nach ihrem Einsatz kühlen die Brennstäbe im Abklingbecken aus. Sechs Jahre dauert das. ©VOL.AT/Klaus Hartinger
Im AKW Mühleberg versichern die Betreiber, das Risiko der Kernkraft im Griff zu haben.
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Die Plattform erscheint unscheinbar. Taubengrau-glänzend gestrichen. Antonio Sommavilla steht in 29 Meter Höhe und zeigt nach unten. Dass unter ihm 240 Brennelemente voll mit Uran gerade dafür sorgen, dass eine halbe Million Haushalte in Bern mit Strom versorgt werden, darauf ist er stolz: „Im Grunde genommen ist das ein großer Tauchsieder. Kein anderer Energieträger ist derartig effizient.“ Mir ist mulmig, hier oben im Reaktorturm des AKW Mühleberg.

Nur ein paar Meter weiter leuchtet das Abklingbecken tiefblau. „Das ist demineralisiertes Wasser, deshalb die Farbe“, erklärt Sommavilla, der die Kommunikationsabteilung des Betreibers, der Bernischen Kraftwerke (BKW), leitet. „Wenn Sie hineinfallen, passiert gar nichts. An der Oberfläche könnte man sogar schwimmen. Nur tauchen sollten Sie nicht.“ Im Abklingbecken kühlen die verbrauchten Brennstäbe ab. Sechs Jahre lang.

In Fukushima war es die ausgefallene Kühlung, die zum GAU führte: Das Wasser verdampfte, die Kernschmelze begann. Ob das in Mühleberg ausgeschlossen ist? „Ja. Alles ist doppelt gesichert. Es geht nichts über Sicherheit.“ Der Reaktorunfall in Fukushima sei auch wegen kultureller Unterschiede passiert, meint der AKW-Mitarbeiter: „Wir sind in der Schweiz nicht derart hierarchisch strukturiert. Wir haben kein Interesse am Vertuschen von Fakten.“

„Nichts zu verbergen“

Freundlich, transparent und auf Sicherheit bedacht: So tritt der Energiekonzern nach außen auf. „Wir haben nichts zu verbergen“, sagt der 53-Jährige. Es klingt einstudiert. Bis zu 7000 Besucher werden jedes Jahr durch die Anlage geschleust. Hinauf zum Abklingbecken darf allerdings nur ein kleiner Teil.

Bis man dort ist, gilt es einige Hürden zu überwinden. Die Prozedur beginnt mit dem Abnehmen der Fingerabdrücke. Frauen müssen bestätigen, dass sie nicht schwanger sind. Ich unterschreibe, lasse meine Tasche scannen und verschaffe mir mit der Chipkarte, die mir gegen Abgabe meines Passes gegeben wurde, Zugang. Wer nicht nur aufs Betriebsgelände, sondern in die kontrollierte Zone im Reaktorturm will, muss sich erst einmal bis auf die Unterwäsche ausziehen und in ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Kernkraftwerk Mühleberg“ schlüpfen. In Badeschlapfen und knallgelben Socken geht es den Gang hinunter, vorbei an der Raucherlounge. Im Radio läuft „Hey Jude“ von den Beatles: „Then you can start to make it better.“

Strahlenfachfrau Claudia Handke hilft bei der ersten Strahlenmessung. „Keine Kontamination“, weiß das Gerät. Handke ist in der Schweiz die einzige Frau, die diesen Beruf ausübt. Frauen sieht man im Atomkraftwerk selten. 320 Mitarbeiter haben hier ihren Arbeitsplatz. Wenn der Reaktor kommende Woche zur Sommerrevision abgeschaltet wird, sind es fast 700. „Davon auch 50 Österreicher“, fügt Handke hinzu.

Jeder Besucher bekommt nun ein Dosimeter, das die persönliche Strahlung misst. Nach drei Schleusen – Fingerabdruckscan inklusive – wird wieder die Kleidung gewechselt. Ein weißer Schutzanzug wartet, und dahinter wieder eine Schleuse. Das Gerät akzeptiert meinen Zeigefinger nicht. „Man will sie hier nicht“, scherzt Sommavilla. Ich bin nicht sicher, wie er es meint. Nach dem dritten Versuch klappt es dann doch.

Nachrüsten nach Fukushima

Wände und Boden sind grau gestrichen. Kein Staubkorn lässt sich finden. Die ­Spezial-Putztrupps leisten ganze Arbeit. „Das hier“, sagt Sommavilla und klopft an eine Stahlwand, „ist ein neuer Erdbebenschutz.“ Nach Fukushima musste auch in Mühleberg investiert werden. Das Kühlsystem wurde verbessert. Erdbeben, Hochwasser, Staudammbruch, Flugzeugabsturz, Terroranschlag: Für alle denkbaren Ereignisse sei man gerüstet. Und die undenkbaren? Die Risse im Kernmantel? Der 53-Jährige wiegelt ab. Alles unter Kontrolle. „Ich bin gegen ein Technologieverbot“, nimmt er Stellung.

Eben erst hat er erfahren, dass das österreichische Umweltministerium das 335 Seiten starke Gutachten zum AKW als Unterstützung der Vorarlberger Klage veröffentlicht hat. Und jetzt? „Wir haben bereits alle Nachweise erbracht, dass das Kernkraftwerk sicher ist“, erklärt er. „Seit es die Anlage gibt, gibt es andere Meinungen und Ängste. Wir haben Verständnis für das Nachbarland. Alles ist darauf ausgelegt, dass keine Radioaktivität nach außen dringt. Geschweige denn in andere Länder.“

Auch die Klage aus Vorarlberg kennt er. „Wir sind der Meinung, dass das Gericht in Feldkirch nicht zuständig ist“, sagt er knapp. Und die zweite Klage, die in der Schweiz eingebracht werden soll? „Wir warten, was eingereicht wird.“ Schließlich hat man bei der BKW auch noch mit anderen Klagen zu tun. Im Juni erzielten Kernkraftgegner einen ersten Erfolg: Nur noch bis Mitte Juni 2013 darf der Reaktor laufen. Vorerst. Denn der Betreiber ging bereits in die nächste Instanz. Das eidgenössische Bundesgericht ist jetzt zuständig und könnte die Entscheidung kippen.

Der Code zum Reaktor

Nach weiteren drei Schleusen wechseln Besucher den weißen Anzug gegen einen gelben. Die letzte Tür zum Abklingbecken geht nur auf, wenn neben Fingerabdruck und Chipkarte noch ein vierstelliger Code eingegeben wird. Dass 2013 Schluss ist, glaubt hier niemand. „Wir gehen davon aus, dass der Reaktor bis 2022 in Betrieb bleibt“, sagt Sommavilla. 50 Jahre wären es dann. So lange, wie die anderen Schweizer AKW voraussichtlich auch laufen werden. „Wir wollen gleich lange Spieße wie die anderen Produzenten.“

Ob 2013 oder 2022: Wenn der Reaktor zum letzten Mal vom Netz geht, wird noch über ein Jahrzehnt lang gearbeitet. Tonnenweise radioaktives Material muss entsorgt werden. Wo, das ist derzeit noch offen. Die Schweizer suchen noch nach Standorten für ein Endlager. „Die Frage des Endlagers wäre technisch gelöst, nur politisch-gesellschaftlich nicht.“ Denn scharf auf ein Atommülllager in der eigenen Gemeinde sind auch in der Schweiz die wenigsten.

„Es wird zehn bis 15 Jahre dauern, bis hier wieder eine grüne Wiese ist“, erklärt der AKW-Mitarbeiter. Grüne Wiesen gibt es um den Reaktorturm zuhauf. Es ist idyllisch hier in Mühleberg. Die Bauern bringen gerade den Weizen ein. Radfahrer kämpfen sich die Kurven hinauf, vorbei an Fachwerkhäusern. Die Aare schlängelt sich malerisch durch das Tal. Darüber funkelt der Wohlensee, beim Wasserkraftwerk Mühleberg. Erneuerbare Energie und Atomstrom liegen in Mühleberg nah beieinander.

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