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"Hat mit Anlass nichts zu tun"

Hat der Papst den Islam nun beleidigt? Oder kam der Anlass vielen gerade recht? "VN"-Interview mit Sozialwissenschaftler Dr. Kurt Greussing zum Islam-Konflikt.

VN: Die Proteste gegen den Papst werden immer lauter. Was bedeutet das?
Greussing: Es ist Ausdruck einer generell zutiefst antiwestlichen Stimmung. Das hat mit dreierlei zu tun:

  • Erstens mit der realen Erfahrung von Politik vor allem der USA, die sich nicht durch Glaubwürdigkeit in der Durchsetzung westlicher Menschenrechtsstandards auszeichnet. Guantanamo und die Folterungen in Abu Ghraib sind schreiende Widersprüche zu den Werten der Aufklärung.
  • Zweitens sehe ich den AusdruckeinesMinderwertigkeitsgefühls angesichts verlorener Jahrzehnte der Entwicklung. Die steigenden Öleinkommen seit 1970 haben, von gesellschaftlichen Nischen wie den Golfstaaten abgesehen, in den entsprechenden Ländern nicht zu gesellschaftlichem Fortschritt geführt. Beispiele sind Nigeria und Pakistan.
  • Drittens ist dies der verkehrte Ausdruck eines innenpolitischen Protests, weil sich so Massenmobilisierung bahn bricht und neue religiöse Eliten die herrschenden herausfordern. Die wiederum müssen positiv reagieren, um sich nicht selber zu gefährden. Die Erregung um Salman Rushdie 1989, der Karikaturenstreit Anfang 2006 und jetzt der Protest gegen den Papst haben jeweils mit den ursprünglichen Anlässen wenig zu tun.
VN:
Also gab es für den Papst nichts zu entschuldigen?
Greussing:
Höchstens unter diplomatischem Gesichtspunkt. Das Gesagte war weder inhaltlich noch in der Absicht als Beleidigung gemeint. Die Frage nach den möglichen Wurzeln von Gewalt müssen sich Christentum wie Islam jeweils selber stellen und das auch in der gegenseitigen Auseinandersetzung tun. Die Moslems sind ihrerseits nicht zimperlich, christliche Beispiele wie die Kreuzzüge hervorzuheben. Und der Koran selber ist nicht gerade ein Beispiel des schonenden Umgangs mit der jüdischen und christlichen Religion, denen vorgeworfen wird, sie würden die eigenen Offenbarungen verfälschen in bewusster Abkehr von der Wahrheit. „Esel mit Büchern“ nennt der Koran etwa die Juden.

VN: Was bedeutet die Affäre für die Moslems in Europa?
Greussing: Es gehört zur Grundlage des säkularen Staates, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Motivationen heraus politisch betätigen. Auch aus religiösen. Deshalb ist es für mich selbstverständlich, dass sich Moslems als Moslems in die Politik einbringen. Weil das auch mit Anerkennung kultureller Hintergründe zu tun hat. Es bedeutet aber ebenso, dass es keine Tabus in der Analyse bei Fragen an diese Hintergründe geben darf. Auch im europäischen Islam gibt es Tendenzen, den Islam als prinzipiell friedlich darzustellen. Als politische Absicht in die Zukunft gewandt ist das begrüßenswert. Aber es darf keine Barriere für kritische Anfragen an die Tradition sein.

VN: Wie weit werden die Folgen wohl reichen?
Greussing: Es gibt im Islam sicher Richtungen, die man als endzeitlich gerichtet sehen kann. Dazu zählt in gewisser Form auch Al Kaida. Ähnliche Haltungen finden wir im fundamentalistischen Bibelchristentum der USA. Es wäre verhängnisvoll, wenn man im einen wie im anderen Fall diese Strömungen als repräsentativ ansähe. Es ist anzunehmen, dass der Anlassfall für die Erregung in den islamischen Ländern so an den Haaren herbeigezogen wirkt, dass er nicht zu einer Verhärtung der Positionen führt.

ZUR PERSON: Dr. Kurt Greussing

Der freischaffende Sozialwissenschaftler hat u. a. über Religion und Staat im Islam publiziert.

  • Geboren: 1946 in Lauterach
  • Ausbildung: Studium der Iranistik und der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin
  • Laufbahn: Tätigkeit für verschiedene Museen, z. B. als Projektleiter beim Aufbau des Jüdischen Museums Hohenems, als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft an der Universität Bremen und 1993 bis 2003 als Manager von Entwicklungsprojekten im südlichen Afrika.
  • Familie: ledig

“Einige sind doch verwirrt”

Abdi Tasdögen vertritt die Islamische Glaubensgemeinschaft im Land. Wie erlebt er die Stimmung unter den 31.000 Moslems? „Nicht gerade gut.“ Einige seien „verwirrt“. Man habe Benedikt XVI. anfangs „als Radikalen“ verschrieen. „Manche fragen sich jetzt: „Stimmt das vielleicht doch?“

In den Moscheen sei der Papst allerdings derzeit kein Thema. Dort werde der Ramadan vorbereitet. Der Fastenmonat beginnt am 24. September.


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