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Haller: "Fast jeder Mensch ist süchtig"

Schwarzach - Im Interview spricht "VN"-Gast Dr. Reinhard Haller über die Sucht und stellt fest: "90 Prozent der Menschen haben süchtige Anteile."

Die Öffentlichkeit kennt Primar Dr. Reinhard Haller vor allem als psychiatrischen Sachverständigen in spektakulären Prozessen. Er ist der Mann, der die Verbrecher begutachtet und entscheidet, ob und wie „verrückt“ ein Straftäter ist. Doch Hallers Hauptberuf ist der des Chefarztes im Suchtkrankenhaus Maria Ebene in Frastanz. Seine Erfahrungen mit den diversen Formen von Sucht hat Haller nun in einem neuen Buch verarbeitet. Von Alkohol- über Sex- bis Internet- und Arbeitssucht: Haller analysiert in unterhaltsamer Weise, wie Menschen auf den fatalen Weg vom „Vergnügen“ zum Teufelskreis geraten.

VN: Herr Dr. Haller, eine provokante Frage zum Anfang: Sind Sie selber arbeitssüchtig?

Haller: Insgesamt bin ich eigentlich ein eher bequemer Mensch. Ich liebe aber meine Arbeit und daher kommt es wohl, dass ich oft zu viel arbeite und gleichzeitig auf zu vielen Hochzeiten tanze. Ob ich arbeitssüchtig bin, kann wohl am besten meine Frau beantworten.

VN: Der Titel Ihres Buches lautet provokativ “(Un)Glück der Sucht“. Darf man das Suchtproblem denn als etwas Schönes darstellen?

Haller: Für den Süchtigen selbst ist seine Sucht durchaus etwas Schönes. Er empfindet das zuerst als Glück, wie z.B. der Heroinsüchtige, der mir sagte: „Ich bin für ein paar Stunden im Paradies“. Aber dieses Glück wird eben irgendwann zu einem großen Unglück.

VN: Sie beschreiben sehr viele Formen der Sucht anhand von Einzelfällen, zum Beispiel die putzsüchtige Hausfrau, die Tag und Nacht staubsaugt. Beim Lesen bekommt man den Eindruck, dass jeder Mensch heutzutage ein Suchtproblem hat.

Haller: Man kann sagen, dass die meisten Menschen süchtige Anteile in sich haben. Etwa 90 Prozent sind auf irgendeine Art abhängig, zum Glück meist nur in harmloser Form. Es gibt „Haustiersüchte“ und „Raubtiersüchte“, letztere fressen einen auf. Dann ist es Zeit, sich helfen zu lassen.

VN: Bücher über das Thema Sucht gibt es wie Sand am Meer. Warum braucht man noch ein weiteres?

Haller: Ich wollte keinen klassischen Ratgeber schreiben. In erster Linie bin ich Suchttherapeut, wollte aber in meinem Buch nicht sinnlose kluge Tipps verbreiten mit verwirrenden Tabellen und vermeintlichen Lösungen. Ich sehe mich da eher in der Tradition der arabischen Ärzte, die ihren Patienten, die unter Seelenschmerz leiden, Geschichten erzählen. Die Beispiele, die ich in meinem Buch beschreibe, sind wahre Geschichten aus meiner Tätigkeit, die natürlich anonymisiert sind. Vielleicht kann man mit diesen Beispielen dazu beitragen, dass der Patient sich selbst erkennt und einen Denkanstoß bekommt. Das Verdrängen ist ja eines der Hauptprobleme des Betroffenen. Während das familiäre und berufliche Umfeld schon längst die Sucht erkannt hat, leugnet der Betroffene hartnäckig sein Problem.

VN: Viele kommen erst nach Jahren des Leidens zu Ihnen. Ist das Tabu immer noch so groß?

Haller: Leider ja. Man traut sich nicht, den Betroffenen auf seine Sucht anzusprechen, dieser wiederrum verdrängt sein Problem. Ein Fall aus meiner Praxis: Ein Vater rief bei uns an und berichtete von der Computersucht seines Sohnes, der oft bis fünf Uhr morgens vor dem Computer saß. Gefragt, ob er denn mit dem Sohn einmal darüber gesprochen habe, antwortete er, dass er das dem Sohn nicht antun könne, das würde dieser nervlich nicht verkraften. Es ist aber wichtig, mit dem Betroffenen zu reden.

VN: Das Thema Sucht ist ja allgegenwärtig. Wie schlimm ist das Problem tatsächlich?

Haller: Ich glaube nicht, dass unsere Welt an der Sucht zugrunde geht. Nicht alle Süchte sind so gefährlich, dass man sie behandeln muss. Ich habe zum Beispiel Patienten, die früher Alkoholiker waren und nach erfolgreicher Therapie jetzt ihre Euphorie durch das Joggen bekommen, auch auf eine abhängige Weise, aber dagegen ist im Grunde nichts einzuwenden.

VN: Wovon sind Sie selbst abhängig?

Haller: Vom Teletext. Ich bin regelrecht süchtig nach diesem Medium. Irgendetwas fasziniert mich daran, es ist allerdings nicht behandlungsbedürftig.

ZUR PERSON

Beruf: Chefarzt KH Maria Ebene Geboren: 1951 in Mellau Familie: verheiratet, drei Kinder Laufbahn: Studium der Medizin an der Uni Innsbruck, danach Facharztausbildung in der Richtung Psychiatrie.

BUCHTIPP

“(Un)Glück der Sucht“
Das neue Buch von Primar Dr. Reinhard Haller ist im ecowin-Verlag erschienen und kostet 19,95 Euro. Das Buch hat 200 Seiten und ist erhältlich bei „Das Buch“ im Dornbirner Messepark und in allen anderen Buchhandlungen des Landes. Am kommenden Dienstag findet im Vinomnasaal in Rankweil die offizielle Buchpräsentation statt. Beginn ist 19 Uhr.

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