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Gauß: Gegen "den Narzissmus der kleinsten Unterschiede"

Er hat die Roma in der Slowakei besucht, die Schwarzmeerdeutschen, die Sorben, die Aromunen und die Gottschee. Mit "Die fröhlichen Untergeher von Roana" wird der Salzburger Autor und Essayist Karl-Markus Gauß (54) seinem Ruf als Reisender und als Spurensucher aussterbender Ethnien wieder gerecht.

Er war “Unterwegs zu den Assyrern, Zimbern und Karaimen”, wie der Untertitel verrät. Dennoch stelle sein neues Buch einen Wendepunkt in seinem Schreiben dar, erzählt Gauß im Gespräch mit der APA: “Dieses Buch ist Abschied und Aufbruch zugleich.”

“Es ist gut für mich, dass ich noch einmal sage, was meine Leidenschaft war. Dieser Band ist schreiberisch der subjektivste.” Schließlich sei er selbst von der Thematik gleich zweifach betroffen: “Meine Eltern waren deutschsprachige Donauschwaben aus der Vojvodina. Und meine Frau ist seit 25 Jahren in der Integration tätig.”

Die Zimbern und Karaimen, die er in Norditalien und Litauen aufgesucht hat, passen gleichsam noch in das alte Schema, das seine bisherigen Reisebücher bestimmt habe, erzählt Gauß. “Ich habe noch Material über mindestens 40 weitere Minderheiten. Aber sie fangen an, einander zu ähneln. Es herrscht der Narzissmus der kleinsten Unterschiede, wenn man darauf beharrt: Nirgendwo werden Ostereier so angemalt wie hier.” Die Frage, ob es ein Verlust sei, wenn von manchen Volksgruppen in ein, zwei Generationen auch die letzten Reste verschwunden sein werden, “diese Frage muss ich gar nicht beantworten. Aber ich komme mit dem Thema nicht mehr weiter. Ich könnte mich nur mehr multiplizieren.”

Die Assyrer dagegen, die er in Schweden aufgespürt hat, “sind keine sterbenden Europäer. Sie sind zukunftsträchtig. Sie sind eine sich bildende Nation im Exil, in der Diaspora.” Von der schwedischen Autoindustrie ins Land geholt, hätten diese orientalischen Christen, auch durch vorbildliche Sprachförderung im Rahmen der Arbeitszeit, in der Emigration eine einzigartige Entwicklung genommen. Dort gebe es etwa eine Stadt, in der zwei Drittel der 60.000 Einwohner Assyrer seien, “ein orientalische Stadt in Schweden”. Dank intensiver Integrationsbestrebungen hätten diese Menschen Kenntnis von Sprache und Kultur des Einwanderungslandes, ohne ihre Herkunft aufzugeben oder zu verleugnen. “Bei uns dagegen läuft Integration immer als Strafe oder Drohung, nicht als Chance. Das muss durchbrochen werden – mittels von Angeboten, aber auch mittels gesellschaftlichen Drucks!”

Gauß gegen einen EU-Beitritt der Türkei

Türkische Nationalisten haben nicht nur Armenier, sondern auch Assyrer brutal verfolgt und stark dezimiert. Die Haltung der Türkei in der Minderheitenfrage hat dazu beigetragen, dass Karl-Markus Gauß den EU-Beitrittsbemühungen der Türkei äußerst skeptisch gegenübersteht: “Die Frage des Türkei-Beitritts in die EU schneidet durch meine Familie. Meine Frau ist dafür. Ich, der der Herold der Osterweiterung war, lange Jahre sogar als Balkan-Gauß gegolten habe, bin heute der Meinung, dass die Türkei zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht der EU beitreten soll.”

“Die Türkei ist ein wunderbares Land, aber ein EU-Beitritt wäre ein klarer Rückschritt für das, was ich mir unter europäischer Integration vorstelle”, sagt Gauß, “Ich bin Anhänger einer Europäischen Union, die nicht nur für freien Verkehr von Waren und Arbeitskräften steht, sondern auch für bestimmte Werte. De facto hat die überhitzte Ostererweiterung dazu geführt, dass ‘mein’ Europa geschwächt worden ist.”

Welche Rolle spielt in diesen Fragen die Religion? “Ich als Atheist anerkenne durchaus, dass Europa eine christlich-traditionelle Fundamentierung hat, auch die jüdische darf man nicht leugnen.” Es sei bedauerlich, dass der aufgeklärte Islam an Boden verloren habe, und die Politik des gegenwärtigen Papstes sei überhaupt “eine Katastrophe”. Was er aber erst im Zuge der Recherchen über die Assyrer erfahren habe, sei die Tatsache, dass auch Christen gegenwärtig von Religionsverfolgung betroffen seien. Nicht nur in der Türkei, wo die Assyrer einst im Osmanischen Reich eine starke Gruppe gestellt hätten, sondern auch im Irak sei dieses Volks verfolgt und stark dezimiert worden.

Natürlich hat der politische Beobachter Karl-Markus Gauß auch Barack Obamas Inauguration als US-Präsident verfolgt. Dass wie die Dichterin Elizabeth Alexander auch hier zu Lande ein Autor Teil einer politischen Amtseinführungs-Zeremonie sein könnte, hält er für unvorstellbar. “Amerika ist eine empathische Nation. Europa hat sich durch vielerlei traurige Erfahrung eine andere Haltung erworben: Wir sind kein pathetischer, sondern ein selbstironischer Kontinent geworden. Bei jedem Intellektuellen gehört Selbstreflexion und Selbstironie zur Grundausstattung. Außer in Frankreich könnte ich mir so etwas nirgendwo in Europa vorstellen. Mit der Macht schreibt man keine Verse.”

Bruno Kreisky, den er einst als “wohlwollenden Despot” beschrieben hat, sei mit seiner Anziehungskraft für Intellektuelle, Künstler und Literaten eine Ausnahme gewesen. Die heutige Funkstille in diesem Dialog sei auch “eine späte Rache der Kreisky-Ära, in der man geglaubt hat, im Vorzimmer der Macht zu sitzen. Schuld daran ist einerseits der skandalöse Anti-Intellektualismus der Politik, andererseits der Umstand, dass Künstler und Intellektuelle nicht mehr glauben, dass sie sich als gute Ratgeber schlechter Politik profilieren können.”

Dass Kulturpolitik-Debatten durch Verteilungskämpfe schrumpfender Subventionen ersetzt wurden, sieht Gauß aus einer differenzierten Position: “Ich bin ein Anhänger des bedingungslosen Grundeinkommens für jeden Bürger. Für Künstler und alle anderen Menschen. Jeder Mensch soll würdevoll überleben können.” Daher betrachtet der Autor und Publizist auch den “ständestaatlich anmutenden Kampf der Autoren- und Künstlerorganisationen” rund um die Verbesserung der sozialen Situation der Künstler mit einer gewissen Reserviertheit. Auch wenn er mit “Die fröhlichen Untergeher von Roana” nun ein Kapitel seines Lebens abgeschlossen habe, werde es weiter Reiseberichte von ihm geben. Doch die Rastlosigkeit, die andere stets aufs Neue in die Ferne treibe, kenne er nicht, versichert der Salzburger schmunzelnd: “Ich bin kein Reisender im klassischen Sinn. Ich halte mich schon ganz gerne zu Hause auf.”

(Das Gespräch führte Wolfgang Huber-Lang/APA)

Karl-Markus Gauß: “Die fröhlichen Untergeher von Roana. Unterwegs zu den Assyrern, Zimbern und Karaimen”, Mit Fotografien von Kurt Kaindl, Zsolnay Verlag, 160 Seiten, 18,40 Euro, ISBN 978-3-552-05454-7

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