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Ex-Islamist Erdogan will Türkei in EU führen

Als „Brückenbauer zwischen Orient und Okzident“ wird der türkische Ministerpräsident Erdogan vom Verein „Werkstatt Deutschland“ gewürdigt, mit dessen „Quadriga“-Preis er am Sonntag in Berlin ausgezeichnet werden soll.

In Erdogans Persönlichkeit vereinten sich demokratische Überzeugung und religiöse Verwurzelung, lobt der Verein; vorbildlich sei seine Versöhnung von universellen Werten und muslimischer Tradition.

Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wird in seiner Laudatio auf den 50-jährigen türkischen Amtskollegen am Tag der Deutschen Einheit vermutlich etwas leiser treten wollen, nachdem dieser die Synthese von Islam und Demokratie zuletzt durch die Kriminalisierung des Ehebruchs demonstrieren wollte und nur durch den Protest der EU daran gehindert werden konnte.

Die Türkei wolle die Integration in die Europäische Union, aber nicht die Assimilation in deren Kultur, verteidigte sich Erdogan nach dem Krach um den Ehebruchs-Artikel, mit dem seine Regierungspartei AKP außereheliche Seitensprünge strafbar machen wollte. Die Debatte entbrannte ausgerechnet kurz vor der Entscheidung über die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit der Türkei, die nach Vorlage einer Empfehlung der EU-Kommission am kommenden Mittwoch vom EU-Gipfel im Dezember gefällt werden soll.

„Vision, Mut und Verantwortung“, wie sie von den „Quadriga“-Preisträgern gefordert werden, wird Erdogan daher weiterhin brauchen, wenn er die Türkei zum Ziel der EU-Mitgliedschaft führen will. Bisher fehlte es ihm an keiner der drei Eigenschaften. Mit viel Mut setzte sich der Mann aus einem Istanbuler Armenviertel gegen den türkischen Staat wie auch die islamische Bewegung durch und brachte es bis zum Regierungschef.

Geboren im Stadtviertel Kasimpasa im europäischen Teil Istanbuls, verbrachte Erdogan seine Kindheit und Jugend zunächst in Rize an der Schwarzmeerküste, der Heimat seiner Familie, und später in der türkischen Metropole am Bosporus, wo er unter anderem als talentierter Fußballer auffiel. Geprägt wurde Erdogan nicht zuletzt durch den Besuch einer religiösen Schule – als er sich als junger Mann politisch engagierte, tat er das in der islamistischen Partei des späteren Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan.

Nach einem Wirtschaftsstudium begann Erdogans Aufstieg als Politiker. Seinem geistigen Ziehvater Erbakan wurde er schon bald unheimlich; trotzdem wurde er 1994 für die religiöse Wohlfahrtspartei zum Istanbuler Oberbürgermeister gewählt. Zumindest in dieser Zeit war Erdogan das, was man heute allgemein einen Islamisten nennt: Er machte keinen Hehl aus der Tatsache, dass für ihn auch in der Politik der Glaube, und nicht die Grundsätze der säkulären Republik, das Maß aller Dinge war. Für die meisten Istanbuler zählte aber vor allem, dass Erdogan die Zwölf-Millionen-Stadt auf Vordermann brachte. Noch heute ist seine Amtszeit legendär.

Auf lokaler und auch auf nationaler Ebene kam für Erdogan aber schon bald das vorläufige Aus. Weil er öffentlich ein Gedicht verlesen hatte, in dem die Moscheen als Kasernen der Gläubigen bezeichnet werden, wanderte er 1999 für vier Monate ins Gefängnis und erhielt ein lebenslängliches Politik-Verbot. In der Haft wandte er sich nach eigenen Angaben vom radikalen Islamismus ab und der Demokratie zu. Mitte 2001 gründete er die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die er nur ein Jahr später zum Sieg bei den Parlamentswahlen führte. Mit Hilfe einer Gesetzesänderung wurde sein Politikverbot hinfällig, so dass er im März vergangenen Jahres das Amt des Ministerpräsidenten antreten konnte.

Seine Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen ist für Erdogan kein Nachteil, im Gegenteil. Seine Anhänger sehen „Tayyip“, wie der Regierungschef von Freund und Feind genannt wird, als ehrlichen Mann aus dem Volk, der so ganz anders ist als die von ihm besiegte, als korrupt verschrieene Politikerkaste, die in Ankara vor 2002 regiert hatte. Nicht nur der vierfache Familienvater selbst setzt in der Hauptstadt neue Akzente: Erdogans Frau Emine ist die erste First Lady der Türkei, die das islamische Kopftuch trägt.

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