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Erdogans Chaos-Plan läuft aus dem Ruder

Gewalttätige Übergriffe gegen Kurden erreichen gefährliches Ausmaß.
Gewalttätige Übergriffe gegen Kurden erreichen gefährliches Ausmaß. ©EPA
Die Türkei ist nach den jüngsten zwei schweren Angriffen der kurdischen PKK im Osten und Südosten des Landes in Aufruhr. Die Wut über dutzende türkische "Märtyrer" lässt das nationalistische Lager überkochen. Der aufgestachelte Mob geht in Selbstjustiz gegen Kurden vor. Insidern zufolge läuft Erdogans Plan, Chaos zu schüren, völlig aus dem Ruder.
Türkei marschiert im Nordirak ein

Ausgerechnet über den Kurznachrichtendienst Twitter hat Recep Tayyip Erdogan am Dienstagabend sein Volk “während des Kampfes gegen den Terror” ermahnt, die Ruhe zu bewahren und “Kaltblütigkeit” zu zeigen. Die Staatsbürger sollten sich nicht zu Provokationen hineinziehen lassen, erklärte er. Es sind noch 52 Tage bis zur am 1. November angesetzten Neuwahl des Parlaments. In acht Distrikten im Südosten gelten Ausgangssperren, einige sollen bis zum März des Folgejahres aufrecht bleiben.

Kurdenpartei im Visier

Insgesamt 128 Parteibüros der prokurdischen Partei HDP wurden seit Sonntag attackiert. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur “Dicle Haber Ajansi” wird seit der Eskalation der Gewalt am Wochenende im Südosten regelrecht Jagd auf Kurden gemacht. Am schlimmsten seien die gewalttätigen Übergriffe in Mersin und Antalya gewesen. Dort wurden sogar kurdische Geschäfte und Häuser attackiert. Aber auch in anderen Provinzen im Westen und im Norden der Türkei häuften sich Medienberichten zufolge Proteste und Attacken.

Übergriffe alles andere als spontan

Die Übergriffe eines kurdenfeindlichen nationalistischen Mobs sind alles andere als spontan. Bei einem ersten Angriff auf das Gebäude der türkischen Zeitung “Hürriyet” in der Nacht auf Montag war der Rädelsführer ein AKP-Parlamentarier und Führer der AKP-Jugendorganisation. Auch Übergriffe durch Anhänger der rassistischen “Grauen Wölfe”, sie stehen der rechtsnationalen Partei MHP nahe, erfolgen zumeist konzertiert.

Albtraum für Erdogan

Der Wistleblower Fuat Avni, ein Insider in den Regierungsrängen, der bis heute nicht enttarnt wurde, hat per Twitter verlautbart, die Katastrophe in Daglica am Sonntag mit 16 getöteten Soldaten habe sich als Albtraum für den Präsidentenpalast entpuppt. Erdogans Plan Chaos zu säen – dieser soll nach dem AKP-Wahldebakel im Juni entstanden sein – sei mit Daglica aus dem Ruder gelaufen, so Avni.

Politisches Kleingeld wird gewechselt

Als erste Reaktion auf den PKK-Angriff in Daglica am Sonntagabend hatte Erdogan gegenüber den regierungsnahen Sendern ATV und A Haber erklärt: “Hätten wir 400 Abgeordnete erhalten, wäre dies nicht geschehen”. Seine Aussage hat in der Folge im staatlichen Fernsehkanal TRT zu Spekulationen über die Wirkung des Daglica-Anschlags auf das Wählerverhalten geführt. “Wenn wir im Südosten den psychologischen Druck auf die Bevölkerung verringern, könnten die Menschen eine andere Wahl (als die HDP) treffen”, analysierte der Chef des AKP-nahestehenden Meinungsforschungsinstituts Denge in der Sendung “Konuk Odasi”.

Am 6. September war ein Militärkonvoi in Daglica in der Provinz Hakkari in eine Sprengfalle geraten. Anschließend lieferten sich kurdische Rebellen schwere Gefechte mit den Sicherheitskräften. Dabei starben nach Angaben des türkischen Militärs 16 Soldaten. Die PKK sprach von 31 toten Soldaten, und erklärte, auf der eigenen Seite keine Verluste erlitten zu haben. Daraufhin flog die türkische Luftwaffe Angriffe gegen vermutete PKK-Stellungen. Am Dienstag wurden bei einem Anschlag auf einen Kleinbus mit Polizisten in der Provinz Igdir im Osten Medienberichten zufolge 14 Polizisten getötet, was den Einmarsch türkischer Spezialeinheiten im Nordirak zur Folge hatte.

“Chaos-Plan” soll AKP an die Macht bringen

Laut dem Insider Fuat Avni verfolgt die AKP mit dem Chaos-Plan das Ziel, durch das Neuauflammen des Konfliktes mit der PKK die islamisch-konservative AKP als stärkste Kraft zurück an die Macht zu dirigieren. Mit dem blutigen Zurückschlagen der PKK als Antwort auf die Luftschläge gegen ihre Stellungen im Zuge des türkischen “Kampfes gegen Terrorgruppen” an seinen Grenzen hat sich die Region im Südosten in ein Pulverfass verwandelt.

PKK als Speerspitze im Kampf gegen den IS

Vor dem 7. Juni klang alles noch ganz anders. Abdullah Öcalan hatte im März 2015 den bewaffneten Kampf für beendet erklärt. Die PKK hielt sich seit Beginn der Verhandlungen mit der Regierung im Herbst 2012 an das Waffenstillstandsabkommen und hatte mehrmals erklärt, ihre Waffen abgeben zu wollen.

Die militante Rebellenorganisation hatte sich im Kampf gegen die Terrormiliz “Islamischer Staat” (IS) Lorbeeren von westlichen Staaten eingehandelt, auch wenn sie weiterhin auf der Terrorliste der USA und der Europäer blieb (lesen Sie hier: “Verrät der Westen die Kurden für den IS?”). Aber die Verhandlungen für eine friedliche Beilegung waren ins Stocken geraten, die PKK-Führungsspitze wurde langsam ungeduldig. Ankara hatte ihrer Ansicht nach die Abmachungen nicht erfüllt. Der Friedensprozess stand immer wieder an der Kippe. Der monatelange, im Vorjahr geführte Kampf um die syrische Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei, die vom IS belagert und so gut wie in Schutt und Asche gelegt wurde, verhärtete die Fronten weiter.

Erdogan setzt PKK mit IS gleich

Im Spätherbst 2014 machte Erdogan deutlich, dass für ihn zwischen PKK und IS kein Unterschied besteht. In der Folge forderte der ranghohe Anführer und einer der Gründerväter der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Cemil Bayik, eine internationale Vermittlung zur Lösung des Kurden-Problems. Der Terrorismusexperte Nihat Ali Özcan von der Stiftung TEPAV ist überzeugt, dass die PKK die Waffenruhe genutzt hat um ihre Stellungen auszubauen, neue Kämpfer zu rekrutieren und ihr Waffenarsenal aufzustocken.

Kurdenpartei erstmals in Parlament – Erdogan-Pläne in Gefahr

Bei der Parlamentswahl am 7. Juni gelang der prokurdischen HDP als Partei nicht nur erstmals der Einzug ins Parlament über die Zehn-Prozent-Hürde. Mit ihren 80 Abgeordneten hat die Kurdenpartei die AKP empfindlich geschwächt und Erdogans Pläne zunichtegemacht, mithilfe einer Zwei-Drittel-Mehrheit ein Präsidialsystem einzuführen.

Im Vorfeld der Juni-Wahlen hatte die HDP sich als neue liberale Kraft in der Türkei präsentiert. Sie erhielt nicht nur von den Kurden starken Zulauf, sondern auch von urbanen, linksorientierten Wählern und Minderheiten. Das Wahlergebnis galt außerdem als klare Absage der Türken an die Ambitionen ihres Staatspräsidenten.

Waffenruhe zerbrochen

Nach dem Wahlerfolg der HPD bestand die Waffenruhe der Türkei mit der PKK nicht einmal mehr am Papier. Aber erst mit dem blutigen Anschlag am 20. Juli im türkischen Suruc, die der Jihadistenmiliz IS zugeschrieben wurde, ist sie endgültig zerbrochen. Die PKK erschoss zwei Polizisten in der Provinz Sanliurfa, als Rache für deren angebliche Kollaboration mit dem IS.

“Tiefer Staat” hinter Anschlag von Suruc?

Über die tatsächlichen Drahtzieher des Suruc-Attentats herrscht weiterhin Unklarheit. Es gilt eine Nachrichtensperre. Laut Recherchen des Investigativjournalisten Ismail Saymaz existieren über den Selbstmordanschlag, bei dem 33 Zivilisten, vorrangig prokurdische, linke Aktivisten starben, bisher nur die Autopsieberichte und ein Resümee. Die HDP vermutet den “Tiefen Staat” hinter dem Anschlag.

Türkei startet Doppeloffensive

Kurz darauf startete die türkische Armee eine Doppeloffensive gegen die IS-Miliz sowie die PKK. Bisher richteten sich die Luftangriffe aber so gut wie ausschließlich gegen PKK-Stellungen im Südosten der Türkei und im Nordirak. Laut Staatsmedien wurden dabei bisher rund 770 kurdische Rebellen getötet. Die PKK wiederum greift seither landesweit Armee- und Polizeiposten an. Türkischen Angaben zufolge wurden dabei seit dem 20. Juli über 100 Sicherheitskräfte getötet.

AKP: HDP verlängerter Arm der PKK

Auf politischer Ebene setzt die AKP ihre Strategie fort, die HDP als verlängerten Arm der PKK zu stilisieren. Der AKP-Abgeordnete von Izmir, Cemil Seboy ging sogar so weit, die sechs Millionen Wähler der HDP als Terroristen zu bezeichnen. Umfragen zufolge würde das Ergebnis für die AKP im November aber wieder ähnlich ausfallen wie im Juni.

Der im Osten und Südosten verhängte Ausnahmezustand soll Erdogan zufolge “den freien Willen des Wählervolkes” garantieren. Wahrscheinlicher ist, dass Ausgangssperren und Militärpräsenz vielen HDP-Wählern den Weg zur Urne verbarrikadieren. Sollte die prokurdische HDP im künftigen türkischen Parlament nicht mehr vertreten sein, hätte dies wohl unabsehbare Folgen für die Stabilität und den sozialen Frieden in der Türkei. So warnt der Sicherheitsexperte Metin Gürcan: “Die Leute, mit denen wir heute verhandeln, könnten die letzten sein, die sich offen für einen Dialog zeigen.”

(APA)

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