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"Das Hirschhaus": Fiebertraum und Menschheitsepos

Auf der Halleiner Perner Insel beeindruckten Jan Lauwers und seine Needcompany mit der Uraufführung des Schlussteils ihrer "Sad Face / Happy Face"-Trilogie "Das Hirschhaus". Bilder der Inszenierung 

Nach subtilen Literatur-Exerzitien im Landestheater (“Verbrechen und Strafe”) und dem traditionellen mittelalterlichen Läuterungsstück vor dem Dom (“Jedermann”) boten die Salzburger Festspiele in ihrer dritten Schauspiel-Produktion der Saison 2008 Montagabend auf der Halleiner Pernerinsel modernes Märchen, multimediale Performance und surrealen Fiebertraum in einem. “Das Hirschhaus”, der von den Festspielen angeregte Schlussteil einer Trilogie von Jan Lauwers und seiner flämischen Needcompany, erwies sich als intelligentes und vielschichtiges Theater. Ab ersten August wird die Trilogie in drei Vorstellungen komplett gezeigt.

Zunächst wähnt man sich in einer Mischung aus Rätselbild und Tollhaus. Seltsame fahrbare Plattformen und Regale finden sich auf der Bühne, eine Gruppe von Menschen ist spärlich bekleidet, ständig am Umkleiden, Ausziehen, Anprobieren, Reden und Agieren. Überall liegen aus weichem Plastikmaterial hergestellte Hirschkörper und Geweihe herum. Ein Setting wie beim Dreh des nächsten Filmes von Matthew Barney, und hätte Jan Lauwers nicht in einer Ansage zu Beginn darauf hingewiesen, dass ein Probenunfall der Darstellerin Anneke Bonnema diese dazu gezwungen hat, ihren Part quasi vom Krankenbett aus zu spielen und zu sprechen, es wäre nicht weiter aufgefallen.

Der Ausgangspunkt dieser auf Englisch und Französisch gespielten Zwei-Stunden-Aufführung (es gibt Übertitel, der deutsche Text der gesamten “Sad Face / Happy Face”-Trilogie ist soeben als Fischer Taschenbuch erschienen) wird gleich offen gelegt: Im Jahr 2001 wurde der Bruder der Needcompany-Tänzerin Tijen Lawton als Kriegsfotograf im Kosovo erschossen, mit der Nachricht, die sie auf einer Tournee in der Garderobe erreichte, brach die Kriegsrealität plötzlich in die Kunstwelt der Gruppe ein. Tijen Lawton spielt sich selbst, die Schwester, die den Leichnam ihres Bruders sucht und sich die Frage nach dem Warum stellt. Auch bei alle anderen deckt sich der Rollenname mit ihren echten Namen, dennoch ist die restliche, folgende Geschichte, so stellt Lauwers klar, Fiktion und nicht Dokumentation.

Doch das “Hirschhaus”, als eine von “drei Geschichten über das Wesen des Menschen” angekündigt (die anderen beiden, “Isabellas Zimmer” und “Der Lobstershop”, entstanden 2004 bzw. 2006), besteht in Wahrheit aus unzähligen Geschichten und dem gleichzeitigen Infragestellen ihres Wahrheitsgehalts. Es beginnt beim angeblichen Tagebuch des toten Fotografen, den Beschreibungen seiner Fotos (die man nicht zu sehen bekommt) und ihren Interpretationen, und endet mit der Schilderung einer gewaltigen, nach “Narnia” oder “Herr der Ringe” klingenden Szene, in der das titelgebende “Hirschhaus”, ein Familienbetrieb, in dem Hirsche gezüchtet werden, von einem Eissturm heimgesucht wird und die Hirsche unter das Eisdach einer engen Schlucht gerettet werden können.

Auch dazwischen geht es ordentlich zur Sache. Benoit Gob kommt als Fotograf mit der Leiche einer jungen Frau ins Hirschhaus. Es ist Inge, eine der drei Töchter der Hausherrin (die großartige Viviane De Muynck ist auch in Österreich bereits bestens bekannt), und der Fotograf hat sie im Balkankrieg selbst erschossen, als er von Soldaten bei einer Hinrichtung gezwungen wurde, “Sophie’s Choice” zu spielen: “Da war eine Mutter mit ihrer Tochter. Er sagte, ich könne eine von ihnen retten, wenn ich die andere erschoss. Madam, ich hatte keine Wahl. Ihre Tochter sagte, ich solle ihr Kind retten.” Inges Geliebter Julien tötet daraufhin, mehr aus Verzweiflung denn aus Rache, den Fotografen. In das nun folgende allgemeine Beratschlagen, wie sich die Gewaltspirale weiter drehen könnte, mischen sich auch die bereits Toten munter ein, ehe Julien schließlich seinerseits mit einem Schlachtschussapparat getötet wird. Zu schlechter Letzt taucht noch ein Rucksack auf, in dem sich die entstellte Leiche des vermeintlich geretteten Kindes befindet.

Den ewigen Fragen um Schuld und Mitschuld, Tod und Trauer entkommt niemand, und sogar die omnipräsenten Hirsche bekommen hier eine zärtliche Herzmassage, ehe sie geschlachtet werden. Natürlich ist das alles immer wieder schwer symbolisch und nicht immer verständlich, aber stets packend und mitunter auch überraschend witzig. Jan Lauwers, der für Text, Regie und Bühnenbild verantwortlich zeichnet, mixt Tanz und Musik, Aktionskunst und Chorgesang, Schauspiel und Klavierspiel zu einer ästhetisch höchst ungewöhnlichen Aufführung, die in jeder Sekunde energisch ihren Kunstanspruch behauptet und doch nie l’art pour l’art ist.

Am Ende gab es freundlichen, doch ein wenig unsicheren Applaus. Wer sich in den nicht übermäßig dicht besetzten Zuschauerreihen umsah, konnte feststellen: “Sad Face / Happy Face” – das hielt sich im Premierenpublikum ziemlich die Waage.

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