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"Das europäische 9/11": Experte ordnet Bataclan-Anschlag von 2015 ein

Das Attentat in Paris mit 130 Toten hat damals "eine Welle des Terrors" losgelöst.
Das Attentat in Paris mit 130 Toten hat damals "eine Welle des Terrors" losgelöst. ©AFP
Der "Bataclan-Anschlag" am 13. November 2015 ist "so etwas wie das europäische 9/11" gewesen. "Das muss man ganz klar festhalten", sagt Nicolas Stockhammer von der Donau-Universität Krems. 130 Menschen verloren an jenem Abend in Paris ihr Leben.

Mehr als 350 weitere wurden im Zuge des Attentats von islamistischen Extremisten verletzt, das nach Angaben des Terrorismus-Experten in weiterer Folge "eine Welle des Terrors" losgelöst hat.

Wendepunkt in Europa

Diese traf immer wieder vor allem europäische Metropolen – Paris, Brüssel, London, Berlin, Wien. Stockhammer führt aus: "Das war sicherlich der am größten dimensionierte und, aus Sicht der Attentäter, ein fast ‚makellos‘ umgesetzter Anschlag." Ein Vorgehen, das sich zu "einer Art Muster" entwickelt hat – und den Kontinent dann unter Beschlag nahm.

Bis zu der Terrornacht in Paris hatte man in Europa, so der Experte, das Gefühl, dass sich "diese Art und Vehemenz" von Anschlägen nach Madrid 2004 nicht (mehr) manifestieren würde. "Wenn, dann würde es eher zufallsgetriebene, niederschwellige Anschlagsszenarien geben", erklärt er. Aber: "Der Bataclan-Anschlag war fast militärisch, generalstabsmäßig geplant." Mehrere Zellen haben miteinander koordiniert – in einem Multiple-Hit-Szenario, wo gleichzeitig an verschiedenen Orten zugeschlagen wird. Und es gab eine konkrete Anleitung in Verbindung mit der operativen IS-Zentrale.

Bilderserie: "Marche de la liberté"

Teilnehmende bleiben vor dem Konzertsaal Bataclan stehen, während sie an der "Marche de la liberté" (Marsch für die Freiheit) teilnehmen, um den Opfern der Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris zu gedenken.

Terrorismus bleibt "stetiger Begleiter"

"Seit dem 13. November 2015 wurden regelmäßig Gesetze verschärft", erklärt Stockhammer. Allerdings bleibt der Terrorismus ein "stetiger Begleiter", sagt der Experte. "Er hat sich strukturell ein wenig verändert. Nämlich sieht man, dass es zu einer Virtualisierung extremistischer Gewalt gekommen ist." Heißt: Die Wertschöpfungskette vom Erstkontakt mit einer Ideologie bis zur effektiven Umsetzung der Tat findet mittlerweile online statt. "Nahtlos", sagt Stockhammer. Es werde online radikalisiert, online rekrutiert, online geplant.

Zwar orientieren sich die Modi Operandi immer wieder an vergangenen Mustern. "Aber: Auch hier dürfte ein gewisser Kreativitätsaspekt hinzutreten", sagt der Experte. Immer häufiger angesprochen werde der Bereich KI. "Also die Benutzung bei der Tatplanung", so Stockhammer. So auch die Verwendung von Drohnentechnologien. Und die zunehmende Verfügbarkeit von 3-D-gedruckten Waffen. "All das wird sukzessive Einzug halten und die Bedrohung verändern – vor allem deren Effektivität."

Ebenfalls Thema ist laut Stockhammer die Vernetzung der terroristischen mit den kleinkriminellen und teilweise organisiert kriminellen Milieus. Das Waffenlager, das am Donnerstag vom Verfassungsschutz in Wien aufgedeckt wurde, sei ein Indikator dafür, dass sich der Terrorismus transnationalisiert hätte. "Dass auch eine Organisation wie die Hamas, die ursprünglich räumlich begrenzt war und die längste Zeit keine großen internationalen Ambitionen gehegt hat, jenseits des Nahen Ostens in Erscheinung zu treten mit Terror, möglicherweise auch hier umschalten könnte", sagt er.

Die "unbestrittene" Hauptbedrohung

Für Europa ist der islamistisch motivierte Terrorismus nach wie vor "unbestritten" die Hauptbedrohung, sagt Stockhammer. "Der IS hat als Terrormiliz im selbsternannten ‚Kalifat‘ sukzessive territoriale Einbußen hinnehmen müssen. Der Wirkungsgrad hat sich strukturell über die Jahre, von 2015 vorwärts, sehr, sehr verkleinert. Bis zum Schluss, wo der IS de facto als besiegt gegolten hat und sich sehr, sehr stark zurückziehen musste", erklärt der Experte. Allerdings sei der IS gleichzeitig als international agierende Terrororganisation in Erscheinung angetreten, die es vermochte, Anhänger direkt anzuleiten, zu Anschlägen in europäischen Städten zu inspirieren. Ob bereits in Europa ansässig oder aus Syrien heimgekehrt. "Das ist, sozusagen, ‚das Meta-Narrativ‘."

Anfang 2020 kam es pandemiebedingt zu einer "Terror-Stagnation", sagt Stockhammer. Mit dem Attentat in Wien am 2. November hätte sich die Dynamik kurzfristig wieder neu entfacht. Ein "Game-Changer" sei dann aber der Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 gewesen. "Er war eine Art ‚Wiedererweckungserlebnis‘ dieser Jihadisten", so der Experte. "Weil sie verstanden haben, dieses Opfer-Narrativ online auszuschlachten. Propagandistisch. Und weil sie sehr stark auf die virtuelle Radikalisierung Jugendlicher gesetzt haben und damit eine Welle von selbstradikalisierten Einzeltätern losgelöst haben." Hierfür würde es sogar einen eigenen Begriff geben: das "virtuelle Kalifat".

Gleichzeitig stellt der "gruppenförmige Terrorismus" ebenfalls noch eine Bedrohung dar. Das zeigten die Attentäter, die hinter dem Anschlag auf die Crocus City Hall in Moskau stehen. Sie, sagt Stockhammer, sind eng mit den Strukturen der Terrororganisationen verbunden und können "taktisch aufwendigere Szenarien" umsetzen. Und: Nicht zu unterschätzen ist der rechts- und linksextremistische Terrorismus, sagt Stockhammer. "Auch hier gibt es eine ‚Konjunktur‘."

System hält sich selbst am Leben

"Das ist die aktuelle Bedrohungslage", erklärt der Experte. "Das ist ungebremst und man sieht eine dramatische Zuspitzung, was die Radikalisierung Jugendlicher betrifft." So werde das Phänomen der Teenager, die sich hinreißen lassen zu Terror-Propaganda, vermehrt beobachtet. Vereinzelt hecken sie sogar Pläne aus und verüben Anschläge. "Es ist ein System, das sich gleichsam selbst am Leben hält", sagt Stockhammer. Wie? "Mit niederschwelligen Attentatsszenarien." Zum Beispiel: Hieb- und Stichwaffen oder "Vehikel-Szenarien", wo Attentäter ein Fahrzeug zweckentfremden und ungebremst in Menschenansammlungen rasen.

In Österreich ist eine "massive Zuspitzung" zu beobachten, was versuchte Terroranschläge betrifft, sagt der Experte. "In den letzten Jahren gab es immer wieder brisante Fälle, wo man teilweise erst kurzfristig im Voraus Anschläge verhindern konnte – mittels Unterstützung internationaler Partner." Von der Attentäter-Typologie verüben oder wollen vorwiegend junge Männer diese Anschläge verüben. "Also in der Alterskohorte 13 bis 24", sagt Stockhammer. Diese Gruppe müsse man mit Maßnahmen adressieren. "Das sieht man mittlerweile."

Auch werde wieder überlegt, inwieweit es einen Konnex zwischen Migration, illegaler Migration und nicht erfolgter Integration gibt. "Letzteres sehe ich eigentlich als ein Hauptproblem", meint der Experte und weist auf den Attentäter vom 2. November hin. Er war "ein junger Mann, der hier geboren, hier aufgewachsen ist und irgendwie nicht zu integrieren war in unsere Gesellschaft". Der Hauptverdächtige der Taylor-Swift-Anschlagspläne auch.

Es wäre also "verkürzt", das Ganze als "reines Migrationsproblem" darzustellen, ist Stockhammer überzeugt. "Man muss sich die Frage stellen, was hat dazu geführt, dass sich junge Männer hier derart entfremden und sich sehr schnell von Extremisten einspannen lassen", sagt er. Das sei das Grundproblem. "Die Bedrohung von innen haben viele aber lange nicht sehen können oder wollen."

Terror hat Europäer "mürbe" gemacht

Geändert hat sich auch einiges in der Bevölkerung. Permanente Anschläge in Europa – und um Europa herum – haben die Menschen "mürbe" gemacht, sagt Stockhammer. Seit der Terrorwelle zwischen 2015 und 2019 gehen sie vor allem weniger gern an Großveranstaltungen. "Aus Sicherheitsbedenken, aus Angst vor terroristischen Anschlägen oder Ähnlichem", so der Experte.

Wahrscheinlicher sind eigentlich "kurzfristige, spontane Einzeltäter-Szenarien", sagt er. "Da braucht es nicht viel zur Vorbereitung, und diese Akteure hinterlassen weniger Spuren – im digitalen Raum zum Beispiel." Dass wir im Alltag aber nicht mehr Angst verspüren, sei ein gewisser Selbstschutz. Die größten "Schadensmomente", sagt Stockhammer, und die meisten Todesfälle bei Großveranstaltungen entstehen außerdem durch die Massenpanik, wo sich Menschen gegenseitig zertrampeln. "Das schwirrt sicher bei manchen mit im Kopf herum."

Mitten in der Gesellschaft angelangt ist aber auch die Zuspitzung von Xenophobie und Islamfeindlichkeit. "Weil manche dann sozusagen pauschalisieren und alle Muslime in die Pflicht nehmen für islamistisch motivierte Terroranschläge", sagt Stockhammer.

(APA)

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