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Angst vor "Brexit-Schock" greift in Europa um sich

Brexit-Lager baut Vorsprung aus.
Brexit-Lager baut Vorsprung aus. ©AFP
Die Eurozone sieht sich für mögliche Turbulenzen nach einem möglichen Austritt der Briten aus der EU gewappnet. "Wir sind natürlich besorgt, wir verfolgen das sehr genau", sagte Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem am Donnerstag in Luxemburg. Die Euro-Länder seien aber in der Lage, "mit allen Schocks umzugehen, die auftreten könnten".

Dijsselbloem sagte, es gebe “keinen Plan B” für den Fall, dass sich die Briten bei der Volksabstimmung am kommenden Donnerstag für den Austritt aus der EU entscheiden. “Wir sind in einer sehr viel besseren Lage, als wir es vor einigen Jahren waren”, sagte er mit Blick auf Reformen in der Währungsunion infolge der Finanz- und Schuldenkrise. Alle hofften jedoch weiter “auf die Weisheit des britischen Volkes”.

IWF warnt deutlich

Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnte am Donnerstag für den Fall eines Brexit vor einem “längeren Zeitraum erhöhter Unsicherheit, Finanzmarktschwankungen und langsamerem Wachstum”. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hält nach Angaben vom Mai “Finanzmarktschocks” für möglich.

Schelling: “Schwerer Schlag”

Der französische Finanzminister Michel Sapin sagte am Donnerstag in Luxemburg, ein Brexit hätte insbesondere für die Briten Folgen. “Der Austritt Großbritanniens aus der EU würde vor allem Großbritannien treffen.” Spaniens Wirtschaftsminister Luis de Guindos forderte, Europa müsse die Briten dazu bringen, “mit ihrem Kopf abzustimmen”. Österreichs Finanzminister Hans Jörg Schelling sagte, ein EU-Austritt Großbritanniens wäre “für die Entwicklung Europas schon ein schwerer Schlag”.

Börsen unter Druck

Die Wiener Börse hat am Donnerstag mit Verlusten geschlossen. Der ATX fiel um 33,01 Punkte oder 1,55 Prozent auf 2.091,26 Einheiten. Zum Vergleich die wichtigsten Börsenindizes um 17.30 Uhr: Dow Jones/New York -0,45 Prozent, DAX/Frankfurt -0,58 Prozent, FTSE/London -0,27 Prozent und CAC-40/Paris -0,44 Prozent.

Belastet wurden Europas Börsen am Donnerstag von den Ängsten rund um einen möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU. Am 23. Juni werden die Briten über den Verbleib des Landes in der Europäischen Union abstimmen.

Dramatische Warnungen

Mit dramatischen Warnungen haben auch Finanzinstitutionen und führende EU-Politiker auf den wachsenden Vorsprung des Brexit-Lagers eine Woche vor dem britischen EU-Referendum reagiert. Ein “No” zur EU-Mitgliedschaft wäre “das größte unmittelbare Risiko für die britischen und weltweiten Finanzmärkte”, verlautete am Donnerstag von der Bank of England.

EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker versuchte aufkommende Panik zu dämpfen: Die EU sei “nicht in Lebensgefahr”. Die Briten stimmen am 23. Juni ab, und in zwei aktuellen Umfragen vom Donnerstag hatte das Brexit-Lager die Nase vier beziehungsweise sechs Punkte vorn. Ein von What UK Thinks veröffentlichter Durchschnitt aus den sechs letzten Umfragen ergibt einen Stand von 52 für “Leave” (Verlassen) und 48 für “Remain” (Bleiben). 13 Prozent der Befragten sind noch unentschieden – der Ausgang ist damit noch nicht vorentschieden.

EU-Ratspräsident Donald Tusk würdigte das Königreich am Donnerstag als “Schlüsselstaat” der Europäischen Union. Es ergebe für Großbritannien und auch seine europäischen Partner “keinen Sinn”, der EU den Rücken zu kehren. Ein Brexit hätte “unvorhersehbare politische und geopolitische Konsequenzen”. Mit Blick auf die Umfragewerte gestand er ein, es falle ihm “sehr schwierig”, dieser Tage optimistisch zu bleiben.

Auch Juncker warnte vor einer “Phase großer Ungewissheit”, sollte die Insel für den Brexit votieren. Allerdings sei die EU ohne Großbritannien auch nicht in “Lebensgefahr”. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) deutete an, dass sie den Preis eines Brexit für Großbritannien höher einschätzt als für eine geschrumpfte EU: Der EU-Binnenmarkt würde der Insel “nicht mehr zur Verfügung stehen”. Sie könne sich nicht vorstellen, dass es “von Vorteil” sei, wenn das Königreich zum “Drittstaat” würde.

Die britische Zentralbank hob drastische Risiken etwa für das Pfund hervor, fürchtet aber auch Schockwellen für den globalen Finanzmarkt. Das geht aus einem am Donnerstag veröffentlichten Sitzungsprotokoll hervor. Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem hängte das Risiko einer Ansteckungsgefahr tief: Die Euro-Länder seien in der Lage, “mit allen Schocks umzugehen, die auftreten könnten”.

Nervosität ist hoch

Wie groß die Nervosität gleichwohl ist, zeigen die Vorbereitungen für den Tag X: Die Spitzen der EU-Institutionen wollen ihre Haltung abstimmen, sobald das Ergebnis auf dem Tisch liegt: Für Freitagvormittag kommender Woche sei ein Treffen von Juncker, Tusk und Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) in Planung, hieß es in Brüssel. Auch der niederländische Regierungschef Mark Rutte werde voraussichtlich an dem Treffen teilnehmen. Dessen Land hat gerade die EU-Ratspräsidentschaft inne.

Aus Angst vor der ungewissen Zukunft eines isolierten Königreichs bildete sich am Donnerstag auch eine ungewöhnliche Allianz: Sowohl die europäischen Gewerkschaften riefen in einem offenen Brief zum EU-Verbleib auf, um Jobs und Arbeitnehmerrechte nicht zu gefährden. Zugleich warnten die Wirtschaftsblätter “Financial Times” und “The Economist”, die mit den Gewerkschaften eher selten einer Meinung sind, vor dem Brexit.

Die “FT” sähe Großbritannien “marginalisiert” und auch die ganze EU geschwächt. Der “Economist” sähe “schwere und dauerhafte Schäden für das politische System und die Wirtschaft in Großbritannien”. Das Boulevardblatt “Sun” hatte die Briten am Dienstag zum Brexit aufgerufen.

(APA)

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